Abschied vom Nomadentum

Im „Nomad Café“ in Oakland sitzen vorwiegend Studenten mit Blackberrys oder iPods, Laptops oder MacBooks herum und nutzen das Wireless LAN, um sich für die Vorlesungen vorzubereiten, um E-Mails zu ziehen, sich mit Freunden zu verabreden oder einfach nur die Zeit tot zu schlagen. Wenn sie mit Kreditkarte bezahlen, steht am Monatsende laufend das Wort „Nomad“ auf der Abrechnung.

Als Christopher Waters das Nomad Café 2003 eröffnete waren Wi-Fi “Hotspots” etwas ganz Neues. Sein Lokal sollte ein „Wasserloch für Techno-Beduine“ sein. Eine interessante Wortwahl: Beduine sind Stammesangehörige, Mitglieder einer eng verflochtenen Sozialgemeinschaft. Waters hat das offenbar gewusst, denn er hat seinen nomadisierenden Gästen nicht nur Internet-Anschluss geboten, sondern eine Art Oase, ein Ort, an dem sich die Wege kreuzen, ein Orientierungspunkt in der Wüste ebenso wie in der Bay Area.

Das Wort „Urban Nomadism“ wird schon lange in Zusammenhang mit der Veränderung moderner Kommunikationsgewohnheiten verwendet. In den 60ern and 70ern verwendete der Medienwissenschaftler Herbert Marshall McLuhan das Wort um eine Zukunft zu beschreiben, in der Menschen rastlos von einem Ort zum anderen wandern, ihre ganzen Habseligkeiten stets bei sich führend, ein Leben auf den Straßen und Highways, eine Welt, in der niemand mehr ein Zuhause besitzt.

In den 80ern verwendete der französische Ökonom Jacques Attali, ein Berater François Mitterrands, den Ausdruck, um eine Zukunft zu beschreiben, in der eine reiche und entwurzelte Elite ewig im Jetset-Tempo um den Globus hetzt auf der Suche nach Spaß oder Chancen, und in der die arme und ebenso entwurzelte Arbeiterschaft stets auf Jobsuche umher irrt.

In den 90ern schrieben Tsugio Makimoto und David Manners das erste Buch, das den Begriff „digital Nomad“ im Titel trug. Ihnen ging es darum, die Auswirkungen der sich abzeichnenden Vielzahl von unterschiedlichen „gadgets“ und Geräten aufzuzeigen, mit denen die Menschen in Zukunft kommunizieren würden. Der Computer, so ihre Voraussage, werde auf die Größe eines Taschenrechner schrumpfen, die Menschen würden „always online“ sein und überall wo sie gerade gehen und stehen surfen, mailen, chatten und natürlich auch telefonieren.

Nun, es ist schwer, Voraussagen zu machen, vor allem wenn es um die Zukunft geht, hat einmal der amerikanische Baseballspieler Yogi Berra gesagt. Der „mobile lifestyle“, wie er sich inzwischen weltweit ausbreitet, hat kaum Ähnlichkeit mit den Prognosen in den alten Büchern. Man kann den Autoren aber keinen Vorwurf machen, denn die Basistechnologien, die das digitale Nomadentum überhaupt erst möglich gemacht haben, existierten ja kaum.

Gut, die US Air Force hatte schon in den 50er Jahren große, klobige, analoge Modems. Ich selbst habe mich als Journalist in den 80ern mit Akustikkopplern herumgeschlagen und mich gefreut, als die ersten „superschnellen“ 28.8 bps Modems auf den Markt kamen.

Und ja, es gab auch in Deutschland seit 1992 Mobilfunk, aber mit dem Handy wurde nur telefoniert. Man konnte zwar sein Mobiltelefon und später auch seinen PDA irgendwie mit dem Internet verbinden, aber in der Regel gehörte dazu ein abgeschlossenes Ingenieurstudium und jede Menge Fingerfertigkeit.

Gelegentlich konnten diese Spezialfähigkeiten sogar gefährlich sein, so wie ein Kollege von mir, der als Auslandskorrespondent in Moskau arbeitete, und erleben musste, wie ihn das Zimmermädchen im Hotel bei der KGB verpfiff, weil er in seiner Not das Telefon auf dem Nachttisch auseinandergebaut hatte, um sein Modem mittels Klemmen direkt an die Telefonleitung anzuschließen.

Und es gab auch schon in den 80ern tragbare Computer, so wie mein allererster PC, der Kaypro II. Er war aus solidem Traktorblech gefertigt, hatte eine eingebaute Kathodenstrahlröhre und wog über 12 Kilo. Der Ausdruck „Schlepptop“ hatte hier mehr als nur eine ironische Bedeutung.

Und trotzdem sah man damals schon Bilder wie dieses, nämlich Manager, die irgendwo entrückt an einem fernen Ort sitzen und dort arbeiten, wo wir Normalsterblichen, wenn wir Glück haben, mal Urlaub machen dürfen. Mein Lieblingsbild war übrigens der in den Broschüren, mit denen die Bahn für den neuen ICE warb, der immerhin schon seit 1985 durch Deutschland fährt. Man sah da immer Geschäftsleute, die relaxed im Abteil sitzen und auf ihren Laptops arbeiten. Dass die erste Generation von ICEs überhaupt keine Steckdosen hatten, die Arbeitssitzung also relativ schnell zu Ende sein würde, davon stand in den Prospekten natürlich nichts.

Nein, noch bis vor wenigen Jahren gab es keine echte „Connectivity“, sondern nur eine Vielzahl von Geräten, die man alle ständig mit sich herum führen und irgendwie miteinander verbinden musste, damit man arbeiten konnte. Was gab es nicht alles für Hilfsmittel, sogar richtige Werkzeugköfferchen für Vielreisende, mit Steckern und Zangen und Schraubenziehern und Pflaster, falls man sich mal beim Kommunikationsbasteln in den Finger schnitt.

Mit richtigem Nomadentum hatte das alles herzlich wenig zu tun. Mein Freund Paul Saffo vom Institute for the Future in Palo Alto hat solche Mobilarbeiter immer mit Astronauten verglichen, die schließlich auch alles mit sich führen müssen, was sie zum Überleben brauchen, inklusive genügend Sauerstoff zum Atmen. Das liegt daran, dass sie sich in einer zutiefst lebensfeindlichen Umgebung bewegen. So wie die ersten digitalen Nomaden auch.

Paul hat einmal Anfang der 90er Jahre bei einem Vortrag, den er auf einem Event für die von mir ins Leben gerufene Zeitschrift „connect“ gehalten hat, ein Bild aufgelegt wie dieses, das in Amerika ziemlich alltäglich ist. Nur stand darauf „End of Call Boxes“. Das war eine Warnung für Motoristen, dass sie jetzt auf einen Streckenabschnitt kommen, wo es keine Notrufsäulen mehr gibt und sie deshalb besser auftanken sollten, denn es würde keine Möglichkeit mehr geben, um Hilfe zu rufen.

Heute geht es uns im Grunde auch so: Wir gehen inzwischen davon aus, dass wir überall kommunizieren können und wundern uns, wenn es nicht geht.  Man sollte vielleicht Warnschilder aufstellen.

Oder wir gehen ganz bewusst irgendwo hin, wo wir wissen, dass es keine Konnektivität gibt. Meine Frau und ich fahren jedes Jahr an die Südwestküste Kretas, nach Loutro. Dort gibt es im Ort selbst keinen Handyempfang. Man muss rauslaufen auf die Landspitze, wenn man telefonieren will. Wir finden das übrigens herrlich. Vielleicht werden wir ja demnächst die ersten Anzeigen von Touristikorten sehen, in denen steht: „Erholung garantiert: Bei uns funktioniert Ihr Handy nicht…“

Im Grunde ist der digitale Nomade bis heute mehr eine Art Einsiedlerkrebs, der sein Haus in Form einer leeren Muschelschale herumträgt – bei uns sind es Pilotenkoffer auf Rädern oder schwere Umhängetaschen voller Adapter, Kabel, CDs, Batterien, Stecker und vor allem jede Menge Papierdokumente, die wir ausgedruckt haben, weil wir Angst haben, irgendein großer Fisch kommt und frisst unsere digitalen Dinge auf. Nein, solche Menschen sind keine Astronauten mehr, sie sind viel mobiler – aber sie haben immer noch schwer zu tragen.

Echte „urban nomads“ sieht man eigentlich erst seit ein paar Jahren. Wie ihre Namensvetter in der Wüste werden sie weniger durch das definiert, was sie bei sich tragen, als vielmehr durch das, was sie zu Hause lassen. Sie sind wirkliche digitale Beduine in dem Sinn, dass sie wissen, wo sie die nächste Oase finden. Sie tragen kein Papier herum, weil sie wissen, dass sie jederzeit per Internet auf ihre Dokumente zugreifen können, per Laptop oder, zunehmend, über ein „smart device“. Viele lassen inzwischen sogar schon den Laptop daheim. Mitarbeiter von Google, der quintessentiellen Hightech Company, tragen fast alle nur noch einen Blackberry mit sich. Wenn sie je Bedarf nach einer richtigen Tastatur haben, dann setzen sie sich im Googleplex an die nächste Arbeitsstation – oder unterwegs an den nächsten Computer in der Lounge, im Internet-Cafe oder beim Kunden. Alles, was sie brauchen, um zu arbeiten – und um zu leben – ist ein Browser.

Bis es allerdings soweit ist, werden die Architekten von Airports, Hotels, Bahnhöfen und anderen öffentlichen Orten noch einiges dazu lernen müssen. Wer kennt sie nicht, die Manager im Dreiteiler, die im Flughafen neben der einzigen Steckdose auf dem Boden kauern. Und wer hat sich nicht schon über Hotelzimmer geärgert, wo die einzige Steckdose neben dem Bett statt neben dem Schreibtisch ist.

Einige haben es schon kapiert. Die Accor-Hotelgruppe wird die Zimmer in den Häusern ihrer neuen „Pullman“-Kette standardmäßig mit WiFi-Zugang, Schnurlostelefone, Webcams und einer “Stromtankstelle” für Laptops, Smartphones und Digitalkameras ausstatten. Und neulich, als ich hier in Frankfurt im Hotel Kennedy, einem Haus der hochnoblem Rocco Forte Group, übernachten durfte und Probleme mit dem Internetanschluss bekam, schickte man mir gleich den Haustechniker aufs Zimmer, der ein mit allen Wassern gewaschener Computerfachmann war. Es gibt, wie er mir sagte, in jedem Haus von Rocco Forte einen 24-Stunden-Notdienst für Computerprobleme.

Nebenbei bemerkt. Finden Sie es nicht auch unverschämt, dass man uns zwingt, im Hotel für Internet-Anschluss zu bezahlen? Wir bezahlen ja auch nicht fürs Fließwasser, und die Heizung ist in der Regel auch umsonst. Internet ist heutzutage mindestens genauso lebensnotwendig – und sollte eigentlich genauso selbstverständlich sein,

Überhaupt gibt es da offenbar ein großes Missverständnis. Nomadentum hat nicht so sehr mit Migration oder Reisen zu tun, sondern mit Beweglichkeit.

Das Missverständnis hat einen ganz einfachen Grund: Anfangs haben nur Manager Mobiltelefone oder Laptops gekauft, und da die ständig auf Achse sind, nahmen alle irgendwie an, dass digitales Nomadentum irgendwas mit Reisen zu tun habe.

Na ja, viele von ihnen sind auch heute noch Frequent Travellers, und das ist auch der Grund, weshalb einige Fluggesellschaften gerade dabei sind, ihre Maschinen in fliegende Oasen für digitale Nomaden umzuwandeln. Gnade uns Gott, wenn sie auch noch das Telefonieren im Handy freigeben! Die Lufthansa war wenigstens so vernünftig, solche Pläne gleich wieder in der Ablage verschwinden zu lassen. Ich habe mit dem Pressechef der Lufthansa darüber gesprochen, und er hat gesagt: „Früher hatten wir Angst vor technischen Störungen durch Mobilfunk im Flugzeug. Heute haben wir eher Angst vor zwischenmenschlichen Störungen…“

Von Anbeginn an ist der Mensch umhergezogen, ohne deshalb gleich ein Nomadendasein zu führen. Das Nomadentum, das wir heute erleben, hat auch nicht so sehr mit dem Zurücklegen von Distanz zu tun. Ein digitaler Nomade kann auch ein Teenager in Berlin oder eine Großmutter in Wanne-Eickel sein. Man kann ein Nomade sein, ohne jemals seine Stadt zu verlassen. Manuel Castells, ein Soziologe an der University of Southern California, hat es sehr schön beschrieben als er sagte: „Dauernde Konnektivität, nicht Bewegung, ist das Wichtigste“.

Ein digitaler Nomade hat allerdings ein anderes Verhältnis zu Zeit und Raum als sein stationärer Zeitgenosse. Das ist auch der Grund, weshalb Soziologen und Anthropologen sich inzwischen für das Phänomen Mobility zu interessieren beginnen.

Neue mobile Dienste wie Twitter sind ein faszinierender Beweis für die These, dass Nomadentum, statt Menschen zu trennen, sie vielmehr immer enger zusammenschweißt. Indem man sich gegenseitig laufend darüber informiert, wo man gerade ist und was man gerade tut, wächst man zu einer Art digitalem Beduinenstamm zusammen, der allerdings unter Umständen den ganzen Globus umspannen kann.

In dem Zusammenhang das Zitat eines Referenten auf der kürzlich zu Ende gegangenen Web 2.0 Expo in Berlin, der über die Zukunft der Mobilität sagte: „It‘s about location, stupid!“ Das Zusammenwachsen von Mobiltelefon, Computer und Navigationssystem hat das Potential, eine ganz neue Revolution in den Kommunikationsgewohnheiten der Menschen auszulösen. Wir können gespannt sei!

Dass Mobilität heute schon das Sozialverhalten der Menschen ändern kann, zeigen zahllose Beispiele wie das Aufkommen von „Flashing“, wo sich kleinere oder sogar ganz große Gruppen spontan per Handy zu „Flash Mobs“ verabreden, um irgendetwas Verrücktes zu machen – die größte Kissenschlacht der Welt, zum Beispiel, wie unlängst in Toronto. Und da jede Technologie natürlich auch ein Missbrauchspotenizial in sich birgt, gibt es so unerfreuliche Dinge wie „happy slapping“, was aber gar nicht so lustig ist, denn es geht darum, dass Teenager irgendein Opfer drangsalieren, das Ganze per Handy filmen und dann online stellen. Und klar eröffnen Camera Phones neue, ungeahnte Möglichkeiten des Voyeurismus – oder „ePeeping, wie das jetzt Neudeutsch heißt.

Es gibt sogar Anzeichen dafür, dass die neue Mobilität Auswirkungen auf den Menschen selbst haben wird, auf die Spezies Homo sapiens. Die Soziologin Linda Stone, die früher bei Microsoft die „Social Computing Group“ leitete, hat 1998 ein Phänomen beschrieben, dass sie „Continuous Partial Attention Syndrom“, oder „CPA“ nannte.

In einem Artikel beschrieben die „New York Times“ CPA folgendermaßen: “Wir sind so sehr damit beschäftigt, alles im Blick zu behalten, dass wir nicht mehr in der Lage sind, uns ganz auf etwas Bestimmtes zu konzentrieren. Das kann sogar Glücksgefühle erzeugen, in sofern, als das ständige Anpingen in uns den Eindruck erweckt, benötigt und erwünscht zu sein. Der Grund, weshalb wir glauben, viele Unterbrechungen unmöglich ignorieren zu können, ist, dass es um Beziehungen geht – irgend jemand, oder irgend etwas, ruft nach uns. Deshalb reagieren wir unterschiedlich auf das Chaos im modernen Geschäftsleben, fühlen uns abwechselnd völlig ausgelaugt und dann wieder total begeistert, wenn wir erfolgreich die Flut eingehender Kommunikationsanforderungen bewältigt haben.“

Ob wir wollen oder nicht, das digitale Nomadentum wird zu umwälzenden Veränderungen führen – technische, soziologische, politische und menschliche.

Der Computer hat das Leben in den entwickelten Ländern massiv verändert. Nun schickt sich die nächste Generation von Mobiltelefone  an, den Rest der Welt zu verändern. Laut ITC besitzen weltweit mehr als 3,3 Milliarden Menschen ein Handy. Da immer mehr von ihnen internetfähig sind, ist davon auszugehen, dass die Menschen in der Dritten Welt über das Mobiltelefon – und nicht über den Computer oder Laptop – den Einstieg ins Internet-Zeitalter finden werden.

Für die Leute in den wirklichen Internet-Hochburgen der Welt wie Südkorea oder Japan wird das alles kaum überraschend klingen. In Japan wurden fünf der zehn bestverkauften Romane des letzten Jahres auf einem Smartphone geschrieben.

Und für die jüngere Generation, die mit SMS und Instant Messaging aufgewachsen ist, wird es sogar selbstverständlich klingen, genau wie für die Leute wie Barak Obama, die sich ein Leben ohne Blackberry gar nicht vorstellen können oder wollen.

Ältere Menschen werden sich dagegen vermutlich schwerer tun, sich in digitale Nomaden zu verwandeln. Aber wenn uns die Hightech-Geschichte irgend etwas gelehrt hat, dann das: Was Techies und Early Adopters heute tun, das werden die anderen spätestens morgen oder übermorgen nachmachen. Die Pioniere zeigen den Weg, der Rest der Menschheit folgt ihnen.

Die Zukunft gehört uns – den digitalen Beduinen!

 

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