Der Stau bestimmt den Preis

Wenn eine Ressource knapp wird, dann regelt die Nachfrage den Preis. Das wissen wir spätestens seit 1776, als Adam Smiths Wohlstand der Nationen veröffentlicht wurde und der Begriff „Marktwirtschaft“ geprägt wurde. Das Gesetz von Angebot und Nachfrage gilt überall – nur nicht im Straßenverkehr!

Man kann sich auf den Economist verlassen, wenn es darum geht, die Augen für etwas zu öffnen, das eigentlich selbstverständlich sein sollte, aber uns Normalsterblichen aber verborgen ist. In einem Beitrag mit der Überschrift The price of jam (ich liebe die Headlines und Bildunterschriften dieses besten Wirtschaftsmagazins der Welt!) untersuchen die Autoren die Frage, wie man dem drohenden Verkehrsinfarkt unserer Innenstädte wirksam begegnen könnte. Ich bin vielleicht deshalb für dieses Thema besonders hellhörig weil ich gestern in Salzburg war, wo ab 10 Uhr in den Festspielmonaten einfach gar nichts mehr geht und die Schlange derjenigen, die in die Innenstadt strebten, bis hinaus nach Wals-Siezenheim reichte. Und ich war vor ein paar Wochen in London, wo Autofahrer seit 2003 für das Privileg, mit dem Auto in die Stadt zu fahren, kräftig zur Kasse gebeten werden: Um die die Congestion-charging Zone (CCZ) einfahren zu dürfen, muss man unter der Woche £11,50 am Tag berappen.

Anfangs funktionierte das Londoner System, trotz Protestwelle, ganz gut:  Die Zeit, die der Durchschnittsfahrer im Stau verbrachte, sank um ein Viertel! Langsam verstummten die Stimmen derjenigen, die darin einen Eingriff in die Freiheit des britischen Bürgers (und vieler ausländischer, aber die zählen dort eher nicht) sahen, überall hinzufahren, wann und wo er will.

Doch inzwischen wartet man wieder genauso lang wie vor der Einführung der CCZ: Die Durchschnittsgeschwindigkeit ist von 32 Stundenkilometern im Jahr 2013 wieder auf 28,5 km/h 2016 gesunken. Es gibt dafür eine Vielzahl von Gründen, nicht zuletzt der Erfolg von Uber und anderen Mitfahrdiensten, die morgens einmal reinfahren und sich dann den ganzen Tag im innerstädtischen Straßenverkehr bewegen, wobei sie mehrmals Gäste aufnehmen und damit unverhältnismäßig zum Dauerstau beitragen. Die Zahl der Mitfahrzeuge, die sich tagsüber in der Stadt tummeln, hat sich von 50.000 im März 2013 auf mehr als 85.000 im November 2016 erhöht. Was passieren wird, wenn erst mal Tausende von autonomen Fahrzeugen die Menschen durch die Innenstadt kutschieren, lässt sich nur erahnen. Jedenfalls ist der Verkehrsinfarkt in London, ebenso wie in anderen Megacities auf der Welt, sozusagen vorprogrammiert.

Für den Staat ist das aus mehreren Gründen eine Katastrophe, nicht zuletzt deshalb, weil die Zahl derjenigen, die selbst ein Auto besitzen und deshalb brav ihre Kraftfahrzeugsteuer an den Fiskus entrichten, mit Sicherheit sinken wird. 2016 nahm Deutschland fast neun Milliarden aus der Kfz-Steuer ein. Dieses Geld wird fehlen für notwendige (oder für unnötige) Investitionen. Der Umweltschutz verstärkt diesen Trend nochmal, denn Autos, die weniger Sprit verbrauchen, müssen seltener tanken, also fallen die Staatseinnahmen aus der Benzinsteuer ebenfalls, mit denen ja unser schwabenschlaue Finanzminister Wolfgang Schäuble gerne die Flüchtlingskosten decken würde. Und über die Elektrofahrzeuge brauchen wir gar nicht erst reden, die sich ja schon aufgrund ihrer niedrigeren Reichweite vor allem für Innenstadtfahrten eignen und überhaupt keine Spritsteuer bezahlen.

Es wird also klar, dass wir bald eine andere Finanzierungsform für den Straßenverkehr finden müssen. Und hier kommt der gute, alte Adam Smith ins Spiel: „Pay as you go“ könnte das Modell der Zukunft sein. Singapore praktiziert schon seit über fünf Jahren etwas, das sie Electronic Road Pricing (ERP) nennen – egal wie sehr sich SAP und andere Hersteller von Unternehmenssoftware mit dem gleichen Namenskürzel darüber ärgern.

Die elektronische Straßenbepreisung funktioniert in Singapur mittels Kameras, die auf Gerüsten installiert sind. Jeder Autofahrer, der in die Stadt fahren will, muss sich ein kleines Gerät aufs Armaturenbrett einbauen lassen, eine so genannten IU („In-vehicle Unit“), die mit einer aufladbaren Cash Card bestückt ist, von dem die Mautgebühr automatisch abgebucht wird. Ist die Karte leer und der Fahrer ignoriert das, flattert ihm ein paar Tage später ein Strafzettel ins Haus. Die IU kostet S$150, und der Einbau ist zwingend vorgeschrieben. Bis 2020 will Singapur übrigens auf ein GPS-System umstellen, das würde die Gerüste und Kameras überflüssig und das Tracking noch genauer machen.

Das Elegante an dem System ist seine Flexibilität:  Bei hoher Verkehrsdichte kann in Singapur Vater Staat mehr verlangen als in ruhigeren Zeiten. Für eine Fahrt von einem Ende der Innenstadt zur anderen morgens während der Rush Hour sind S$15 oder mehr fällig, für die gleiche Fuhre um die Mittagszeit nur S$2. Angebot und Nachfrage, eben…

Der Hausverstand sagt mir, dass es fairer ist, denjenigen zur Kasse zu bitten, der den Stau verursacht, als anderen, deren Auto vielleicht um diese Zeit im Parkhaus oder daheim vor der Haustür steht. Genau das aber macht unser System aus Kfz- und Kraftstoffbesteuerung. Und die existierenden Mautsystemen in Europa und anderswo mit ihren Pickeln und Einfahrtskarten verschlingen riesige Investitions- und Betriebskosten. HAben SIe sich schon mal gefragt, wie viele Italiener von morgens bis abends in den kleinen Kabinen der pedaggio hocken und Autofahrer abkassieren.

Verkehrsplanern und Politikern würde ein System, das von der tatsächlichen Inanspruchnahme der Verkehrsinfrastruktur durch den einzelnen Fahrer abhängig ist, eine Menge anderer Vorteile bringen. Man könnte die Höhe der Maut zum Beispiel von dem Lärm oder dem Grad der Luftverschmutzung abhängig machen oder vom Unfallrisiko auf einer bestimmten Strecke – ähnlich wie es einige Autoversicherer machen, die vor allem Führerscheinneulingen einen Nachlass gewähren, wenn sie bestimmte Zeiten und Strecken meiden, und die umgekehrt zu schnelles Fahren durch Prämiennachschlag bestrafen.

Das Problem sind die Autofahrer selber. Als die Württembergische Versicherung ein solches System vor ein paar Jahren einführen wollte, bekamen sie den Big Brother Award der Organisation Digitalcourage e.V. aufgebrummt. Datenschützer machen sich Sorgen, dass Schindluder mit den gesammelten Informationen getrieben wird – zumindest in Deutschland ein totsicheres KO-Kriterium. Okay, in Singapur schert sich der Staat einen Dreck um solche Bedenkenträger, aber in den USA ist die Bürgerrechtsorganisation ACLU bereits gegen OREGO zu Feld gezogen, ein System im Bundesstaat Oregon, bei dem sich Fahrer allerdings freiwillig anmelden können.

Das Wettrennen um die Daten der Autofahrer ist in Wirklichkeit schon längst in vollem Gange. Ein Auto ist heute im Grunde ein Computer auf Rädern, und sie generieren jetzt schon riesige Datenmengen. Das weckt Begehrlichkeiten, denn es lassen sich außer Mauteinnahmen auch andere Geschäftsmodelle vorstellen, auf die die Automobilindustrie scharf ist: Location-based services, zum Beispiel, wenn mein Auto mir im Vorbeifahren sagen kann, ob es in der Eisdiele oder bei MacDonalds gerade eine Sonderaktion gibt. Außerdem werden die aggregierten Daten möglichst vieler Fahrzeuge in Zukunft die Grundlage für die Algorithmen bilden, mit denen selbstfahrende Autos gesteuert werden.

Ja, man muss ab und zu mal einen Blick in den Economist werfen, um auf Dinge aufmerksam zu werden, die im Grunde naheliegend sind. Nur dass wir es meistens vorziehen, sie einfach zu ignorieren. Da hilft der ADAC mit seinem ewigen Lamentieren über „freie Fahrt für freie Bürger“ genauso wenig weiter wie Alexander Dobrindt und seiner Maut-Schizophrenie: Was wir jetzt brauchen, ist eine vernünftige Diskussion über Machbares und Wünschenswertes. Und Adam Smith sollte dabei auch zu Wort kommen.

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