Ein Buch, das mehr ist als die Summe seiner Teile

Ossi Urchs (* 16. August 1954 +25. September 2014)

Das ist wieder so eine Frage auf Quora gewesen, die unter die Haut geht: „Findest Du, dass das Mitschreiben in einem Buch das Buch zerstört, oder ist das für Dich in Ordnung? Und warum?

Ich habe vor ein paar Jahren mit meinem besten Freunde ein Buch geschrieben. Er hieß Ossi Urchs und war der „Internet-Guru“ Deutschlands, und mich bezeichnete die „Süddeutsche“ einmal als den „Wanderprediger des deutschen Internets“. Wir kannten uns damals schon über 20 Jahren und waren enge Freunde geworden. Wir schrieben beide lange Jahre erfolgreich für die deutsche Ausgabe des „Playboy-Magazins“, und wir waren inzwischen, jeder für sich Autoren von mehreren Büchern über digitale Themen (bei mir sind es mittlerweile ein rundes Dutzend!).

Vor allem aber haben wir viel miteinander geredet. Jedes Jahr am Vorabend der Cebit trafen wir uns in Hannover im wunderbaren Ristorante Roma in der Goethestrasse, aßen köstliche italienische Spezialitäten, die von der Schwester des Besitzers nach den Rezepten ihrer Mutter zubereitet wurden, und tranken viel zu viel köstlichen italienischen Wein. Dabei ließen wir das vergangene Internet-Jahr Revue passieren. Und so ganz nebenbei haben wir alle anstehenden Probleme dieses noch jungen und hoffnungsfrohen Zukunftsmediums, die sich im Laufe des Jahres aufgestaut hatten, im Handumdrehen gelöst.

Das Problem war: Weil wir so viel Wein getrunken hatten, konnten wir uns meistens nicht mehr an die Lösungen erinnern…

Und deshalb haben wir uns jedes Jahr wieder vorgenommen, ein gemeinsames Buch zu schreiben, in der wir unser gesammeltes Wissen und unsere Erfahrungen aufarbeiten und der Welt als unser gemeinsames Erbe hinterlassen würden.

Die Jahre vergingen, jedes Jahr gab es eine Cebit, wo wir uns trafen und neue Ideen ausbrüteten, an die wir uns nicht mehr erinnern konnten. Und irgendwann hatten wir es satt. „Diesmal schreiben wir das Buch wirklich“, haben wir uns geschworen. Und so kam es auch – nur ein bisschen anders, als wir es uns gedacht hatten.

Wir stellten uns das ziemlich einfach vor: Wir einigen uns auf eine Gliederung, eine Kapitelstruktur und auf die einzelnen Kapitelinhalte. Dann teilen wir die Kapitel auf, jeder geht nach Hause, schreibt „seine“ Kapitel und fertig ist die Laube!

Aber als jeder von uns sein erstes Kapitel fertig hatte und wir sie gegenseitig lasen, fielen wir aus allen Wolken! Diese Texte hatten stilistisch nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun. Sie hätten genauso von zwei Wesen aus völlig fremden Welten geschrieben worden sein können.

Dazu muss man unsere sehr verschiedenen Vorgeschichten kennen. Ich bin in Amerika geboren und aufgewachsen und später amerikanische Literatur studiert. Mein großes Vorbild ist Ernest Hemmingway, der Meister der kurzen Sätze und starken Gefühle. Ossi hingegen hat in Frankfurt unter Adorno, Horkheimer und Habermas studiert, war also ein klassisches Produkt der  „Frankfurter Schule“, die sich ihrerseits auf Hegel, Marx und andere deutsche Philosophen berief – lauter Leute, deren Werke ich für absolut unlesbar hielt und immer noch halte!

Deutsch kann für mich eine wunderschöne Sprache, wenn sie Leute wie Rilke oder Heine in die Hände bekommen. Unter den Frankfurtern wird sie zu einem unförmigen Gebilde aus Schachtelsätzen und Fremdwörtern; eine sprachliche Form der Knüppelfolter des Hochmittelalters. Und Ossi, der in Amerika gelebt hat und so sprach, wie unser 68igern eben der Schnabel gewachsen war, schrieb so, als wollte er eine Dissertation über Aufklärungsdialetik verfassen.

An diesem Punkt schien unsere Idee, zusammen ein Buch zu schreiben, eigentlich zu Ende zu sein. Das empfanden wir übrigens beide so. Derart unterschiedliche Schreibstile zusammenzuführen schien uns unmöglich. Und dabei ging es noch gar nicht um die Inhalte! Bei denen waren wir uns ja einig.

Wir trafen uns und redeten einen langen Abend lang darüber – so, wie wir es seit Jahren getan hatten. Und dabei ist uns eine grandiose Idee gekommen! Statt gemeinsam ein Buch zu schreiben sollten wir es sprechen, eine Art Schreibgespräch – ein echter platonischer Dialog!

Ossi besaß damals ein Wochenendhaus im Spessart. Ich war kurz vorher in den Salzburger Lungau gezogen, wo ich auf 1.100 Metern Seehöhe, umgeben von Alpen, im idyllischen Alten Forsthaus von St. Michael wohnte und immer noch wohne.

Wir beschlossen, uns abwechselnd in unseren jeweiligen Refugien zu treffen und je ein Wochenende damit zu verbringen, über ein Kapitel zu reden. Dabei folgten wir so eng als möglich unserem „Fahrplan“, nämlich der Kapitelstruktur, die wir in Form von Zwischenüberschriften vorher festgelegt hatten. Nach zwei, drei Stunden machten wir Pause, gingen spazieren in der herrlichen Natur oder aßen zu Mittag. Abends kochten wir uns was und öffneten die eine oder andere Flasche italienischen Rotweins und redeten, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen. Dabei lief immer ein Aufnahmegerät mit, da wir ja wussten, dass wir uns nicht so sehr auf unser Erinnerungsvermögen verlassen konnten.

Am Ende hatten wir vier „Spessarter Gespräche“ und vier „Lungauer Gespräche“ im Kasten. Ich habe dann die Aufgabe übernommen, Transkripte zu machen. Beim Abschreiben habe ich, der alte Zeitungsredakteur, meinen Job gemacht, nämlich das Redigieren. Wir jeder weiß, der schon mal ein Interview abgeschrieben hat, reden die Menschen nicht immer in druckreifen Sätzen, und das war auch bei uns nicht anders. Ich musste so manchen Satz grammatikalisch zu Ende führen, und viele Wiederholungen fielen dem Streichstift zum Opfer. Aber das Ergebnis war – ein Buch!

Ich habe Ossi das fertige Manuskript geschickt, der ist es mit spitzer Feder durchgegangen, aber nach zwei Wochen konnten wir unserem Verlagslektor, der ungeduldig darauf wartete – wir wollten zur Buchmesse im Herbst fertig sein – ein fertiges Ergebnis schicken. Er hat es wie immer behutsam und feinfühlig bearbeitet, und das erste Exemplar von „Digitale Aufklärung“ lag eine Woche vor Messebeginn gedruckt vor.

Leider hat die Freude nicht lange gedauert. Ossi sah man schon beim Messerundgang deutlich die Krankheit an, die ihn wenige Wochen später im Hospiz in Offenbach dahinraffen sollte. Und ich habe in meiner Grabesrede gesagt, dass es vor allem die Gespräche mit ihm sein würden, die ich vermissen werde.

Ab und zu hole ich das Buch aus dem Regal und lese darin. Und ich höre ihn und mich, wie wir gemeinsam etwas geschaffen haben, das keiner von uns allein hingekriegt hätte. Wenn je das Ganze größer war als die Summe seiner Teile, dann dieses Buch.

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