Ein Ticket in die Vergangenheit

Das Digitalzeitalter hat uns manchen Fortschritt beschert. Wie mühsam war doch damals die Fliegerei, als man noch ein Papierticket brauchte, das man sich im Reisebüro oder bei der Fluggesellschaft besorgen musste. Und wenn er weg war, war er weg, meistens jedenfalls. Ich erinnere mich mit Schrecken an eine Rucksackreise nach Indonesien im Jahre des Heils 1980, wo man mir selbigen samt Pass, Bargeld, Reiseschecks und natürlich auch die Rückflugkarte klaute und ich bettelarm und reichlich hilflos im Büro der staatlichen Fluggesellschaft Garuda um Ersatz vorsprach. Nach mehreren Stunden – das Telefax-System in Jakarta streikte gerade, wie so oft – erbarmte sich meiner eine hübsche junge Angestellte und stellte mir, ohne dass sie dazu autorisiert war, sozusagen auf Verdacht einen Flugschein aus, bat mich aber innständig, mich gleich nach der Ankunft beim Ticketschalter in Singapur zu melden und die Sache klar zu stellen. „Wenn Sie das nicht tun, bin ich meinen Job los. Und an meinem Gehalt hier hängt meine ganze Familie – meine Kinder, meine Großeltern und meine Schwiegermutter“, sagte sie ängstlich.

Ich weiß nicht, was es ihr den Mut zu einem so tollkühnen Regelverstoß gab, aber ohne sie säße ich vielleicht immer noch in Fernost fest. Jedenfalls ging die Sache für uns beide gut aus: Ich gelangte wieder zurück in der Zivilisation, und sie konnte ihre Arbeitsstelle behalten. Heute wäre die Sache natürlich ganz einfach: Ich würde mir das eTicket einfach nochmal aufs Handy runterladen und es beim Einchecken der freundlichen Stewardess zeigen.

Ja, wir sind weit gekommen in der Zwischenzeit, jedenfalls  beim Fliegen. Als Konzertbesucher jedoch steckt man leider noch mitten in der digitalen Steinzeit. Als ich neulich mit meiner lieben Frau eine Reise nach Berlin plante, stellten wir erfreut fest, dass man in der Philharmonie ein Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlinmit einem unserer Lieblingsstücke von Aaron Copland, seine „Appalacian Symphony“, zu geben beabsichtigte. Also ging ich auf die Website von berlin.de und bestellte zwei Tickets, die ein paar Tage später auch per Schneckenpost bei uns in München eintrudelten.

Als wir dann in Berlin die Koffer auspackten, fragte mich meine Frau: „Wo sind eigentlich die Tickets fürs Konzert?“ Ich schaute sie etwas ratlos an und sagte: „Die hast doch du eingesteckt, oder?“ Hatte sie natürlich nicht, also mussten sie nach wie vor daheim auf der Biedermeierkommode liegen, wo wir immer unsere Eintrittskarten hinlegen, damit wir ja dran denken und nicht irgendwann belämmert in Berlin dastehen und keine Karten haben…

Aber wir hatten ja zum Glück noch ein paar Tage Zeit. Und ich hatte auch die Quittung als E-Mail in meiner Mehlbox, und die enthielt die Bestellnummer. Also rief ich bei Berlin Ticket an und bat die nette Dame um Ersatztickets. „Das geht nicht so einfach“, belehrte sie mich in einem etwas strengen Ton, so als hätte ich etwas Unanständiges gesagt. Die Karten hätte uns nämlich in Wirklichkeit ein gewerbliches Ticket-Büro verkauft, sie selbst seien nur vermittelnd tätig gewesen. Und auf deren Datenbank habe sie keinen Zugriff. Am besten, meinte sie, sollte ich beim Veranstalter selbst anrufen, in diesem Fall die Berliner Symphoniker. Dort fand ich auf der Webseite auch gleich die Telefonnummer des „Besucherserservice“, und spätestens da hätte ich vielleicht hellhörig werden sollen, denn ein solcher Druckfehler ist ja wohl eher ein Hinweis, dass man bei den Symphonikern nicht allzu häufig auf seine eigene Seite klickt.

Tatsächlich erreichte ich einen freundlichen jungen Mann, der mir sagte, er könne gar nichts tunm weil er ja schließlich keinen Zugang zu den Daten von Ticket Online habe. Ich könnte die aber gerne an ihn verweisen, vielleicht ließe sich was machen. Also rief ich wieder bei Ticket Online an und gab die Telefonnummer der Symphoniker an und bat, mich per E-Mail wissen zu lassen, ob es mit den Ersatzkarten klappt.

Etwa eine Stunde später bekam ich E-Post von einer „Papagena Kartenvertrieb GmbH“, von der ich bislang nie etwas gehört hatte. Das heißt: Ich bekam eigentlich nur eine Kopie, denn die Mail war an die „Rundfunk Orchester und Chöre GmbH Berlin“ gerichtet, zu der auch das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin  gehört. Papagena bat das ROC, uns gegen Vorlage des als PDF-Datei beigefügten „Einlassscheins“ ausnahmsweise ohne Ticket rein zu lassen, da diese „für den Kunden nicht mehr auffindbar“ seien.

 

Na ja, abgesehen davon, dass ich auf Reisen war und erst mal eine Möglichkeit finden musste, selbigen schein auszudrucken, schien die Sache damit erledigt zu sein. Dachte ich jedenfalls – bis ich dann eine Mail vom „ROC-Besucherservice“ bekam, in der stand: „Bitte senden Sie uns zur Ausstellung von Ersatzkarten eine eidesstattliche Erklärung über den Verlust der Karten per Email. Wir hinterlegen Ihnen dann Ersatzkarten an der Abendkasse, die Sie dort unter Ihrem Namen … abholen können.“

Ich habe noch nie eine eidesstattliche Erklärung abgegeben und weiß deshalb nicht, wie einer aussieht. Gibt es dafür vielleicht eine besondere Schriftform? Muss womöglich ein Notar seinen Stempel drunter setzten? Ich habe also vorsichtshalber meinen Anwalt angerufen, der meinte, es genüge eine E-Mail mit der Formulierung „ich erkläre hiermit an Eides statt, dass etc. etc.“ Das heißt. Strenggenommen sei das ja nicht rechts, wenn die E-Mail keine Digitale Signatur trage, aber im Normallfall reich das aus, und wo kein Kläger, da kein Richter, und so weiter.

Das Konzert ist am Samstagabend, und ich bin ganz schön gespannt, ob wir reinkommen. Ich kann mir aber den Gedanken nicht ganz verkneifen: Irgendwie hätte das alles auch einfacher gehen können. Von wegen Fortschritt durch Technik…

Wenn meine nette Garuda-Stewardess damals so umständlich gewesen wäre wie eine deutsche Ticketverkäuferin, da säße ich jetzt immer noch in Jakarta.

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