Für wen schreiben wir?

Blogs sind Worte im Wind, ziellos in die endlose Freiheit des Netzes entlassene Gedankenfetzen, von der wir hoffen, dass sie wie Brieftauben irgendwann und irgendwie zum Empfänger gelangen. Doch wie groß ist die Chance? Etwa eins zu drei, wenn man der jüngsten Studie der Initiative D21 und TNS-Infratest glauben darf. Demnach sind bislang nur 26 Prozent der Deutschen „in der digitalen Alltagswelt angekommen“, wie es in der einschlägigen Pressemitteilung heißt. 30 Prozent zählen sich zu den „Gelegenheitsnutzern“. Und die bei weitem größte Gruppe – 35 Prozent – haben mit Internet & Co. überhaupt nichts am Hut. Sie bezeichnen die Studienschreiber als „digitale Außenseiter“.

Ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht? Kommt wohl auf den Standpunkt an. Das ist so wie die Sache mit den Optimisten und den Pessimisten: Der Optimist sieht beim Schweizer Käse den Käse, der Pessimist die Löcher. Die gute Nachricht lautet doch: Wir Blogger können mit 56 Prozent der Deutschen erreichen, allerdings nur mit etwas Glück und viel Rückenwind. Ein Drittel von ihnen sind – auch wieder eine Frage des Standpunkts – ausgeschlossen oder wehren sich erfolgreich gegen die digitale Aufdringlichkeit.

Übrigens liegt Deutschland damit ziemlich gut im europäischen Durchschnitt, jedenfalls wenn man der Website „Internet World Stats“ glauben darf. Im Vergleich zum Internet-Stammland USA fällt die Alte Welt allerdings weit zurück: Dort waren Ende 2009 angeblich 252.908.000 Menschen mehr oder weniger regelmäßig online, macht satte 74,2 Prozent!

Viel wichtiger als die nackten Zahlen, die ja schließlich nur eine Momentaufnahme darstellen, sind allerdings die Zuwachsraten. Europa hat im vergangenen Jahrzehnt um 297,8 Prozent zugelegt, Amerika nur um 134 Prozent. Ist ja eigentlich klar: die Amis haben einen gehörigen Vorsprung und außerdem eine kleinere Bevölkerung als Gesamteuropa. Wer bei null anfängt, bei dem bedeutet ein Neuzugang schon 100 Prozent Wachstum. So erklären sich auch die fantastischen  Wachstumszahlen beispielsweise Afrikas (1.392 Prozent) und des Nahen Ostens (1.648 Prozent). Und ja, unterm Strich sind doppelt fast so viele Menschen in Europa online wie in den Vereinigten Staaten (418 Millionen zu 253 Millionen). Über den Grad an „eReadiness“ sagen diese Zahlen aber wenig aus.

Für mich ergeben sich hier zwei zusammenhängende Fragen, die beide von großer gesamtgesellschaftlicher Bedeutung sind, nämlich: Werden wir irgendwann alle online sein? Und wenn nicht: Was wird aus dem Rest?

Irgendwie habe ich den Eindruck, dass „Internet literacy“ zumindest von den Digerati auf eine Stufe mit der allgemeinen Lesefähigkeit gestellt wird. Der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung schätzt die Zahl der „funktionalen Analphabeten“ in Deutschland grob auf vier Millionen geschätzt worden. Wie hoch sie wirklich ist, weiß niemand. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung gibt deshalb gerade 2,2 Millionen Euro für ein dreijähriges Projekt „Alphabetisierung und Bildung“ aus. Müsste sie das Geld nicht lieber in die Internet-Ausbildung stecken? Schließlich wird in einer Wissensgesellschaft der Grad des „Internet-Alphabetismus“ auch für Erfolg oder Misserfolg eines Wirtschaftsstandorts ausschlaggebend sein, oder?

Die Alternative heißt: Vergesst sie! Damit legen wir allerdings den Grundstein zu einer Art „Internet-Präkariat“. Wir nehmen in Kauf, dass diese Leute von einem zunehmend wichtigeren Teil des Lebens abgeschnitten sind, wie arme Straßenkinder in Indien, die sich die Nase plattdrücken an den Restaurants und Läden, die der Käuferkaste angehören, und die von denen geflissentlich ignoriert werden.

Oder gibt es ein Grundrecht auf Internet-Verweigerung? Müssen wir dauerhaft auf eine Gruppe Rücksicht nehmen, die wir der Einfachheit halber hier mal die „Schirrmacher-Fraktion“ nennen wollen. Müssen wir womöglich für sie ähnliche Vorkehrungen und Erleichterungen schaffen wie für Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen, eine Art rollstuhlgerechte Informationsgesellschaft? Das hieße, wir schleppen sie halt irgendwie mit, bemühen uns womöglich sogar um ihre Integration, behandeln sie aber de facto weiterhin als Randgruppe.

Am Ende ist es wie immer bei solchen Diskussionen: Es bleibt nur der Appell, frühzeitig mit der „digitalen Sozialisierung“ zu beginnen, in den Schulen und vielleicht sogar in den Kindergärten.

Unser Nachbarskind ist zwei Jahre alt. Wenn er rüberkommt, fordert er als allererstes „Mauwuff“, und ich hole den Laptop rüber, schließe ihn an den Fernseher an und gehe auf YouTube, wo unzählige Folgen der wunderbar kindgerechten Comicserie „der kleine Maulwurf“ warten. Neulich ging es ihm nicht schnell genug, da kam er mit dem Kabel an und steckte ihn in die Videobuchse des Computers. Demnächst wird er selber den Browser bedienen. Ist das gut oder schlecht? Ich denke: Er bereitet sich damit heute schon auf ein Leben vor, in dem der Umgang mit dem Digitalen so wichtig sein wird wie Lesen und Schreiben. Wird er deswegen ein besserer Mensch sein? Ich weiß es nicht.

Aber eines weiß ich genau: Wenn auch nur einer diesen Blog liest, hat es sich für mich gelohnt, ihn zu schreiben.

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