Inmitten von Gemetzel: ein Weihnachsmärchen

Weihnachten ist zwar knapp vorbei (heute enden die Rauhnächte, die wir Angelsachsen als die „Twelve Days of Christmas“ feiern), aber ich bin gerade an ein historisches Ereignis erinnert worden, das mit dem Weihnachtsfest in Verbindung steht und um das sich allerlei Mythen ranken. Ich meine den inoffiziellen Waffenstillstand – der berühmte Weihnachtsfrieden – an der Westfront im Ersten Weltkrieg, als die Soldaten aus ihren Schützengräben krochen, sich gegenseitig was zum Trinken anboten, gemeinsm Weihnachtslieder sagen und sogar Fußball miteinander gespielt haben, bevor sie wieder zurückgingen und anfingen, sich gegenseitig wieder abzuballern.

Das alles war natürlich höchst inoffiziell und rechtswidrig. Viele Offiziere waren damit nicht einverstanden, und die Hauptquartiere auf beiden Seiten ergriffen strenge Maßnahmen, um sicherzustellen, dass dies nie wieder geschehen konnte.

Aber solange er andauerte, war der Waffenstillstand, wie Augenzeugen berichteten, etwas magisch, und sogar das nüchterne Wall Street Journal ließ sich zu der Feststellung hinreißen: „Was aus dem Winternebel und dem Elend auftaucht, ist eine Weihnachtsgeschichte, eine schöne Weihnachtsgeschichte, die in Wahrheit das verblassendste und zerfleddertste aller Adjektive ist: inspirierend.“

Die ersten Anzeichen dafür, dass etwas Seltsames vor sich ging, gab es am Heiligabend. Um 20:30 Uhr meldete ein Offizier der Royal Irish Rifles dem Hauptquartier: „Die Deutschen haben ihre Schützengräben beleuchtet, singen Lieder und wünschen uns ein frohes Weihnachtsfest. Es werden Komplimente ausgetauscht, aber ich treffe trotzdem alle militärischen Vorsichtsmaßnahmen.“ Weiter entlang der Linie brachten sich die beiden Seiten mit Weihnachtsliedern ein Ständchen – dem deutschen „Stille Nacht“ begegnete ein britischer Chor mit „The First Noel“ – und Späher trafen sich vorsichtig im Niemandsland, der von Granaten zertrümmerten Wüste zwischen den Schützengräben. Das Kriegstagebuch der Scots Guards hält fest, dass ein gewisser Private Murker „eine deutsche Patrouille traf und ein Glas Whisky und einige Zigarren bekam, und eine Nachricht zurückgeschickt wurde, die besagte, dass sie nicht auf uns schießen würden, wenn wir nicht auf sie schießen würden.“

Das gleiche Grundverständnis scheint sich an anderen Stellen spontan eingestellt zu haben. Für einen anderen britischen Soldaten, den Gefreiten Frederick Heath, begann der Waffenstillstand am späten Abend desselben Tages, als „überall in unseren Schützengräben ein im Krieg einzigartiger Gruß an unser Ohr drang: ‚Englischer Soldat, englischer Soldat, frohe Weihnachten, frohe Weihnachten!'“ Dann – so schrieb Heath in einem Brief nach Hause – fügten die Stimmen hinzu:

‚Komm raus, englischer Soldat; komm raus zu uns.‘ Für einige Zeit waren wir vorsichtig und antworteten nicht einmal. Die Offiziere, die einen Verrat befürchteten, befahlen den Männern, still zu sein. Aber oben und unten in unserer Linie hörte man die Männer auf diesen Weihnachtsgruß des Feindes antworten. Wie konnten wir widerstehen, uns gegenseitig ein frohes Weihnachtsfest zu wünschen, auch wenn wir uns gleich danach an die Gurgel gehen würden? So unterhielten wir uns laufend mit den Deutschen, die Hände immer an den Gewehren haltend. Blut und Frieden, Feindschaft und Brüderlichkeit – das erstaunlichste Paradox des Krieges. Die Nacht dauerte bis zum Morgengrauen – eine Nacht, die durch Lieder aus den deutschen Schützengräben, das Pfeifen von Piccolos und aus unseren breiten Reihen durch Gelächter und Weihnachtslieder erleichtert wurde. Nicht ein Schuss wurde abgefeuert.

Mehrere Faktoren kamen zusammen, um die Bedingungen für diesen Weihnachtsfrieden zu schaffen. Im Dezember 1914 waren die Männer in den Schützengräben Veteranen, vertraut genug mit der Realität des Kampfes, um viel von dem Idealismus verloren zu haben, den sie im August in den Krieg getragen hatten, und die meisten sehnten sich nach einem Ende des Blutvergießens. Der Krieg, so hatten sie geglaubt, würde bis Weihnachten vorbei sein, doch da waren sie in der Weihnachtswoche immer noch schlammig, kalt und im Kampf. Dann, am Heiligabend selbst, wichen mehrere Wochen milden, aber elendig durchnässten Wetters einem plötzlichen, harten Frost, der entlang der Front eine Staubschicht aus Eis und Schnee erzeugte, die den Männern auf beiden Seiten das Gefühl gab, dass etwas Spirituelles stattfand.

Wie weit verbreitet der Waffenstillstand war, ist schwer zu sagen. Es gibt viele Berichte über Kämpfe, die in einigen Sektoren während der Weihnachtszeit fortgesetzt wurden, und andere, in denen sich die Männer verbrüderten, während in der Nähe die Kanonen abgefeuert wurden. Ein gemeinsamer Faktor scheint gewesen zu sein, dass sächsische Truppen – die allgemein als leichtlebig angesehen wurden – am ehesten involviert waren und die ersten Annäherungsversuche an ihre britischen Kontrahenten unternommen haben. „Wir sind Sachsen, ihr seid Angelsachsen“, rief einer über das Niemandsland hinweg. „Was gibt es für uns zu kämpfen?“ Die detaillierteste Schätzung, die von Malcolm Brown von den britischen Imperial War Museums vorgenommen wurde, besagt, dass sich der Waffenstillstand über mindestens zwei Drittel der von den Briten gehaltenen Grabenlinien erstreckte, die Südbelgien durchzogen.

Die Berichte über einen Weihnachtsfrieden beziehen sich aber nur auf eine Aussetzung der Feindseligkeiten zwischen den Briten und den Deutschen. Die Russen an der Ostfront hielten sich 1914 noch an den alten julianischen Kalender und feierten daher erst am 7. Januar Weihnachten, während die Franzosen weitaus empfindlicher als ihre Verbündeten auf die Tatsache reagierten, dass die Deutschen etwa ein Drittel Frankreichs besetzt hielten – und die französische Zivilbevölkerung mit einiger Härte behandelten.

Erst im britischen Sektor bemerkten die Truppen im Morgengrauen, dass die Deutschen kleine Weihnachtsbäume an den Brüstungen ihrer Schützengräben aufgestellt hatten. Langsam wagten sich Gruppen von Männern beider Seiten an den Stacheldraht, der sie trennte, bis – wie der Schütze Oswald Tilley seinen Eltern in einem Brief schrieb – „buchstäblich Hunderte von jeder Seite im Niemandsland standen und sich die Hände schüttelten.“

Die Kommunikation konnte schwierig sein. Deutschsprachige britische Truppen waren rar, aber viele Deutsche waren vor dem Krieg in Großbritannien beschäftigt gewesen, häufig in Gaststätten. Hauptmann Clifton Stockwell, ein Offizier der Royal Welch Fusiliers, der sich in einem Schützengraben gegenüber den Ruinen einer schwer beschossenen Brauerei wiederfand, schrieb in seinem Tagebuch von „einem Sachsen, der ausgezeichnetes Englisch sprach“ und der „in irgendeinen Horst in der Brauerei zu klettern pflegte und seine Zeit damit verbrachte, zu fragen: ‚Wie geht es London?‘, ‚Wie war es bei Gertie Millar und dem Gaiety?‘, und so weiter. Viele unserer Männer schossen im Dunkeln blindlings auf ihn, worüber er lachte, eines Nachts kam ich heraus und rief: ‚Wer zum Teufel bist du?‘ Sofort kam die Antwort zurück: ‚Ah, der Offizier – ich glaube, ich kenne Sie – ich war früher Oberkellner im Great Central Hotel.“

Natürlich konnten nur wenige der Männer, die am Waffenstillstand beteiligt waren, Erinnerungen an London teilen. Weitaus verbreiteter war das Interesse am „Fußball“, der zu diesem Zeitpunkt in Großbritannien bereits seit einem Vierteljahrhundert und in Deutschland seit den 1890er Jahren professionell gespielt wurde. Vielleicht war es unvermeidlich, dass einige Männer auf beiden Seiten einen Ball hervorholten und – kurzzeitig von der Enge der Schützengräben befreit – sich daran erfreuten, ihn herumzukicken. Was folgte, war jedoch etwas mehr als das, denn wenn die Geschichte des Weihnachtsfriedens ihr Juwel hat, dann ist es die Legende des Spiels zwischen den Briten und den Deutschen – das die Deutschen angeblich mit 3:2 gewonnen haben.

Die ersten Berichte über einen solchen Wettkampf tauchten ein paar Tage später auf; am 1. Januar 1915 veröffentlichte die Times den Brief eines Arztes der Rifle Brigade, der von einem „Fußballspiel … zwischen ihnen und uns vor dem Graben“ berichtete. Die offizielle Geschichte der Brigade bestand darauf, dass kein Spiel stattfand, weil „es höchst unklug gewesen wäre, die Deutschen wissen zu lassen, wie schwach die britischen Schützengräben gehalten wurden.“ Aber es gibt viele Beweise dafür, dass an jenem Weihnachtstag Fußball gespielt wurde – meist von Männern der gleichen Nationalität, aber an mindestens drei oder vier Stellen auch zwischen Truppen der gegnerischen Armeen.

Die ersten Berichte über einen solchen Wettkampf tauchten ein paar Tage später auf; am 1. Januar 1915 veröffentlichte die Times einen Brief eines Arztes, der zur Rifle Brigade gehörte und von einem „Fußballspiel … zwischen ihnen und uns vor dem Schützengraben“ berichtete. Die offizielle Geschichte der Brigade bestand darauf, dass kein Spiel stattfand, weil „es höchst unklug gewesen wäre, die Deutschen wissen zu lassen, wie schwach die britischen Schützengräben gehalten wurden.“ Aber es gibt viele Beweise dafür, dass an jenem Weihnachtstag Fußball gespielt wurde – meist von Männern der gleichen Nationalität, aber an mindestens drei oder vier Stellen auch zwischen Truppen der gegnerischen Armeen.

Natürlich waren nicht alle Männer auf beiden Seiten vom Weihnachtsfrieden begeistert, und der offizielle Widerstand machte mindestens ein geplantes deutsch-englisches Fußballspiel zunichte. Leutnant C.E.M. Richards, ein junger Offizier, der im East Lancashire Regiment diente, war sehr beunruhigt über Berichte über Verbrüderungen zwischen den Männern seines Regiments und dem Feind und hatte die „Rückkehr des guten alten Scharfschießens“ am späten Weihnachtstag sogar begrüßt – „nur um sicher zu gehen, dass der Krieg noch andauerte“. An diesem Abend jedoch erhielt Richards „ein Signal vom Bataillonshauptquartier, das ihm sagte, er solle ein Fußballfeld im Niemandsland anlegen, indem er Granatenlöcher auffüllte usw., und den Feind am 1. Januar zu einem Fußballspiel herausfordern.“ Richards erinnert sich: „Ich war wütend und habe nichts unternommen“, aber mit der Zeit wurde seine Meinung milder. „Ich wünschte, ich hätte das Signal behalten“, schrieb er Jahre später. „Dummerweise habe ich es zerstört – ich war so wütend. Jetzt wäre es ein gutes Souvenir gewesen.“

Diese Geschichte hört sich zu schön an, umw ahr zu sein –  aber sie ist es! Jedenfalls haben es Zehntausnde von Soldaten miterlebt und einige haben sogar überlebt, um davon zu berichten. Ich denke gerade heute in unserer zutiefst gespaltenen Welt tut es gut, sich ab und zu an sowas zu erinnern.

 

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