Nein, wir Amerikaner spinnen nicht – oder jedenfalls nicht alle!

Amerika ist politisch gespalten in zwei zutiefst verfeindete Lager, das ist nicht neu. Man muss ja nur einen Blick auf das Kandidatenfeld der konservativen Republikaner werfen, die im November den als liberal geltenden Barak Obama herausfordern wollen: der ehemalige Investmentbanker und Milliardär Mitt Romney liefert sich gerade ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Rick Santorum, dem übrig gebliebenen Hoffnungsträger der „Tea Party“-Bewegung, der zum Kreuzzug gegen die „Moocher“ („Schnorrer“) aufgerufen hat, zu denen er alle zählt, die staatliche Leistungen wie Arbeitslosengeld, Krankenversicherung oder Mutterschutz in Anspruch nehmen.

Von Deutschland aus könnte man den Eindruck gewinnen, dass ungefähr die Hälfte aller Amerikaner diese Ansicht teilt, denn die beiden Lager liegen schließlich in der Wählergunst fast gleichauf. Wenn das so ist, dann reflektieren Romney und Santorum tatsächlich die Meinung jedes zweiten Amerikaners. Und das bedeutet, wiederum aus deutscher Sicht, dass die Hälfte aller Amerikaner Spinner sind. Sie wollen Steuern für Superreiche senken, halten Abtreibung und Homoehen für Teufelswerk und die globale Erwärmung für ein Komplott von Wissenschaftlern, die sich an den Futtertöpfen der Fördergelder suhlen wollen. Klarer Fall für den Psychiater, oder?

Dieser Eindruck trügt, und Schuld daran ist das System der Vorwahlen, mit denen die Republikanische Partei gerade den Herausforderer zu küren versucht. Man könnte nämlich glauben, dass es sich bei dem komplizierten Verfahren um eine echte basisdemokratische Übung handelt, bei der das (Partei-)Volk um seine Meinung gefragt wird und am Ende derjenige herauskommt, der am besten die Werte und Positionen der meisten Mitglieder wiederspiegelt.

Das ist Unsinn!

In Wirklichkeit bestimmt eine kleine, bigotte Minderheit darüber, wer im Herbst gegen Obama antreten darf. Wenn man nämlich genauer anschaut, wer tatsächlich bei den Vorwahlen abstimmt, findet heraus, dass es sich fast ausschließlich um alte weiße Männer und Frauen handelt, die zu religiösem Extremismus neigen – eine kleine Minderheit, also, selbst in Amerika!

In einem Beitrag für die heutige Ausgabe der New York Times analysiert der Kolumnist Timothy Egan die vorliegenden Zahlen und behauptet: „Mit Mehrheitswahl hat das, wie man es auch misst, nichts zu tun. Eigentlich ist es nicht einmal partizipatorische Demokratie.“

In den neun republikanischen Vorwahlen bisher haben drei Millionen Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme abgegeben. Das sind gerade mal elf Prozent der 28 Millionen registrierten Wähler in diesen Bundesstaaten. In Maine sind weniger als ein Prozent der registrierten Wähler zur Urne gegangen, in Nevada waren es nur drei Prozent – und 99 Prozent von ihnen waren Weiße, und das in einem Staat, in dem 26 Prozent der Bevölkerung Latinos sind.

In Flordia sind 84 Prozent der registrierten Wähler nicht zur Wahl gegangen. Von denen, die doch gewählt haben, waren 78 Prozent älter als 45. Bei der letzten Präsidentschaftswahl waren nur 59 Prozent älter als 45.

Am krassesten war der Fall in South Carolina, wo 98 Prozent der Vorwähler weiß waren. Laut der letzten Bevölkerungszählung betrug der Weißenanteil hier nur 66 Prozent. 72 Prozent waren älter als 45. Im Mittel ist die Bevölkerung nur 35 Jahr alt. Zwei Drittel gaben an, Mitglied einer radikalchristlichen Glaubensgemeinschaft zu sein. Bei der letzten Präsidentschaftswahl lag der Anteil der Evangelisten lediglich bei 40 Prozent.

Halten wir bitteschön fest: Der Weißenanteil der Gesamtbevölkerung Amerikas beträgt 63,7 Prozent. Zwei Drittel aller Amerikaner befürworten nach einer Umfrage der New York Times Obamas Forderung, Krankenkassen sollten die Kosten für Abtreibungen übernehmen. Selbst unter amerikanischen Katholiken sind 67 Prozent für die Abtreibung auf Krankenschein!

Warum also scheint die Republikanische Partei gerade im Begriff zu sein, einen von zwei alten weißen Männern als Kandidaten in den Sattel zu hieven, die beide behaupten, Abtreibungsgegner zu sein und sich beide als strenggläubig bezeichnen. Bei Santorum ist vielleicht sogar der Begriff des „christlichen Taliban“ eher angebracht.

Die Republikaner, so viel ist klar, repräsentieren in ihrer derzeitigen Zusammensetzung nicht die Mehrheit der Amerikaner. Sie vertreten die Ansichten einer radikalen Minderheit, die man ehrlicherweise eigentlich nur als politisch derangiert bezeichnen kann.

Und das bedeutet: Weder Romney noch Santorum haben im Herbst den Hauch einer Chance gegen Obama. Jedenfalls nicht, wenn Amerika nicht in der Zwischenzeit kollektiv den Verstand verliert. Und das kann ich, bei aller Liebe für mein Heimatland und für die meisten meiner Landsleute, leider nicht völlig ausschließen.

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