Alter vor Digitalisierung: Der Deutsche Mittelstand im Jahre 2025

Die Geschichte des deutschen Mittelstands wurde von starken Unternehmerpersönlichkeiten geschrieben: Männer und Frauen mit Ideen und Visionen, mit dem Mut zur Innovation und dem Geschäftssinn, das Beste daraus zu machen. Sie waren Einzelgänger, die unbeirrbar ihren Weg gingen und am Ende viel Erfolg hatten. Sie sind bis heute Vorbilder geblieben.

Doch die Zeiten ändern sich. Ein Robert Bosch oder Karl Benz, ein Max Grundig oder Hermann Bahlsen, eine Margarethe Steiff oder eine Caroline Märklin hätten heute vermutlich mit einem kleinen Laden kaum noch eine Chance, auf eigene Faust zum Erfolg zu kommen. Sie wären heute wahrscheinlich die ersten, die Internet, moderne Kommunikation und Netzwerkeffekte für sich nutzen würden. Denn das zeichnet inzwischen den weitsichtigen Unternehmer aus: Er lässt den Wandel für sich arbeiten.

Solche Weitsicht ist heute mehr gefragt denn je. Der deutsche Mittelstand, die tragende Säule der deutschen Volkswirtschaft, droht eine der wichtigsten Weichenstellungen der Neuzeit zu verpassen: Der Übergang von einer analogen zur digitalen Wirtschaft – einer Wirtschaft, in der es weniger auf unternehmerische Einzelleistung und mehr auf Vernetzung, auf Kommunikation und Kollaboration ankommt. Darauf sind die meisten Unternehmer und Manager in Deutschland auch heute noch, mehr als zwanzig Jahre nach dem Beginn der Internet-Revolution, noch nicht ausreichend gerüstet.

Entwickler, Programmierer, Projektmanager und Produktdesigner werden dringend gebraucht. Im Mittelstand sind solche Experten jedoch Mangelware. Viele Unternehmen ordnen Digitalisierungsprojekte der IT-Abteilung zu, welche jedoch oft keine Kapazität für neue Projekte hat. Insgesamt hat sich Deutschland bei der Digitalisierung im EU-Vergleich zwar wieder leicht erholtt und belegt nun unter den 27 Mitgliedstaaten den 14. Platz und liegt damit unter dem Durchschnitt. Im Vorjahr lag Deutschland noch auf Rang 16, hatte in den Jahren 2021 bis 2023 aber auch schon bessere Werte erzielt und die Ränge 12 und 13 belegt.

Wie soll es aber weitergehen? Wo bleibt der deutsche Mittelstand im Jahr 2025? Wie wird der Standort Deutschland, der ein zutiefst mittelständischer ist, im internationalen Vergleich dastehen? Das sind Fragen, die nicht nur für die Unternehmen, sondern für alle Menschen in diesem Land von größter Tragweite sind. Der Konkurrent von morgen hat seinen Betrieb nicht in Wanne-Eickel oder Rosenheim, sondern in Hyderabad oder Fujian. Denn auch der deutsche Mittelstand muss auf der Globalisierungswelle mit schwimmen – oder untergehen.

Auch wenn Ausnahmen die Regel bestätigen, so muss man leider feststellen, dass die Mehrzahl der mittelständischen Unternehmen die Möglichkeiten der Digitalisierung nicht ausreichend, um ihr Geschäft voranzutreiben und ihre Zukunft zu sichern. Gleichgültig ob Produktionsbetriebe, Handels- oder Dienstleistungsunternehmen: Die meisten nutzen Informationstechnologie und Vernetzung längst nicht offensiv genug. Natürlich stehen überall in den Büros, in Lagerhäusern und Fabriken PCs, natürlich verfügen auch kleine und mittlere Unternehmen über Server und Datennetze zur Informationsübermittlung und –verarbeitung. Sie beschränken sich aber weitgehend auf die Automatisierung klassischer Abläufe und Verwaltungprozesse, zum Beispiel im Rechnungswesen, in der Warenwirtschaft, in der Produktionssteuerung oder in Konstruktion und Planung.

Auch machen deutsche Mitteklständler inzwischen erste Erfahrungen mit künstlicher Intelligenz (KI) – aber es sind eher tapsende erste Schritte. „Der industrielle Mittelstand in Deutschland tut sich schwer, aus KI handfesten Nutzen zu ziehen,“ schreibt der Industire-Anzeiger.

Laut einer Deloitte-Studie fühlen sich nur 3 % der befragten deutschen Führungskräfte „sehr gut“ darauf vorbereitet, KI im eigenen Unternehmen einzuführen. Gleichzeitig geben laut McKinsey knapp 86 % der Führungskräfte im deutschen Mittelstand an, dass sie durchaus ungenutzte Potenziale für KI im eigenen Unternehmen erkennen. Diese Diskrepanz zwischen Erkenntnis und Handlungsfähigkeit ist alarmierend und unterstreicht den Nachholbedarf in Sachen KI-Kompetenz auf Führungsebene.

Es stimmt zwar, dass viele Unternehmen in den letzten Jahren auch erste, meist zaghafte Schritte Richtung eBusiness unternommen oder mit Hilfe mehr oder weniger funktionsfähiger Webshops den Einstieg in den eCommerce gewagt haben, manchmal sogar mit einer Anbindung an bestehende Warenwirtschaftssysteme. Insgesamt aber bleiben Digitalisierung und Vernetzung in den meisten mittelständischen Unternehmen Stückwerk – digitale Inseln inmitten analoger, arbeitsintensiver und deshalb heute schon inneffizienter Geschäftsprozesse. Und dabei stehen wir mit der Digitalisierung ja eigentlich erst am Anfang!

Die Aufgabe der nächsten Jahre lautet deshalb ganz klar: Brücken bauen, um die verschiedenen digitalen Inseln miteinander zu verbinden. Das ist leichter gesagt als getan. Bislang mussten die schmalen Brücken, die es bereits gibt, mühsam über technisch teilweise hochkomplexe Schnittstellen hergestellt werden. Nun weiß aber jeder Informationstechniker, wie schwierig es ist, Eingriffe in laufende Systeme vorzunehmen. „Never change a running system!“, lautet denn auch das erste Gebot aller IT. Jede kleinste Veränderung wirkt sich auf andere Systeme aus, wenn also ein Glied in der Kette verändert wird, müssen alle anderen angepasst und ebenfalls verändert werden. So viel zum Thema Flexibilisierung in der IT. In der Praxis ist es häufig aufwändiger, eine neue Software mit den bestehenden Systemen zu integrieren, als die ursprünglich anvisierte Prozessunterstützung zu entwickeln.  Wenigstens ist in der IT-Branche selbst langsam ein Umdenken zu erkennen, mit einer neuen Hinwendung zur Modularisierung und Wiederverwendbarkeit von System- und Softwareeinheiten. Dazu später mehr.

Doch die Technik ist nicht das Problem. Die wahren Defizite liegen im vernetzten Denken. Sie stellen die eigentliche Ursache für den zögerlichen Einsatz von Informationstechnologie und Internet in mittelständischen (und übrigens auch in vielen großen) Unternehmen dar. In diesem Buch wollen wir die These wagen, dass mit intensiverer Nutzung heutiger Technologien eine viel stärkere Verzahnung aller Geschäftsprozesse in einem Unternehmen und zwischen verschiedenen Unternehmen möglich wäre, wenn Unternehmer und Manager ihre Fähigkeit, vernetzt zu denken, entwickeln und verbessern würden.

Was ist damit gemeint?

In der westlichen Kultur steht seit Altersher der Einzelne im Mittelpunkt. Individualismus und Eigenständigkeit (die oft nur eine nette Umschreibung für Selbstsucht sind) ist tief in unseren Traditionen und im unternehmerischen Selbstverständnis gerade des Mittelstandes tief verwurzelt. Ich bin mir selbst der Nächste, dann kommt lange nichts, dann mein Partner oder Partnerin, meine  Kinder, meine Familie, meine Freunde, meine Bekannten, mein Verein – kurz: mein ganz persönliches Beziehungsnetzwerk. Zumindest der Teil Bevölkerung, die sich mit ihrer Arbeit identifizieren und engagiert sind, zählen vielleicht noch ihre Kollegen, zumindest ihre engste Arbeitsgruppe dazu: die Abteilung, der Bereich, bei kleineren Betrieben vielleicht sogar das ganze Unternehmen. Das ist, grob gesagt, gemeint, wenn wir von „ich“, „wir“ oder „uns“ sprechen. Der Rest sind eben die „anderen“. Aus dieser absolut egozentrischen Perspektive sind die anderen zunächst einmal unsere Feinde, auf jeden Fall aber Konkurrenten.

Fortschritt geht in dieser Weltsicht stets von „uns“ aus. Und wenn doch jemand anderer etwas besser macht, dann stachelt uns das an, diesen Vorsprung aufzuholen und den Konkurrenten möglichst zu überholen – anstatt, was vielleicht sinnvoller wäre, dessen Wissensvorsprung durch Kooperation und intensive Vernetzung zum gemeinsamen Vorteil zu nutzen. Das gleiche gilt natürlich noch umso mehr, wenn wir uns selbst vorne wähnen. Dann suchen wir diesen Vorsprung auszubauen, den Abstand zu vergrößern zwischen uns und die – zum Glück – hinterherhinkenden Mitbewerber. Wir verteidigen unseren Vorteil notfalls mit Zähnen und Klauen, so lange es eben geht.

Doch dieses Denken ist längst überholt in einer Welt, in der Vernetzung zumindest im technischen Sinne immer mehr zur Determinante des Fortschritts wird, in der Datenströme unermesslichen Ausmaßes um den Globus kreisen und in der praktisch alles mit allem und jeder mit jedem zusammenhängt. Hinzu kommt die wachsende Komplexität der gegenseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten, die der Einzelne kaum noch zu überblicken vermag. Hier seien nur auf die ungelösten Menschheitsprobleme wie globale Erwärmung, Trinkwasser- oder Energieversorgung verwiesen. Wer immer noch glaubt, auf eigene Faust einen individuellen Vorsprung verteidigen und daraus Kapital schlagen zu können, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.

Uns geht es beileibe nicht darum, das Prinzip des freien Wettbewerbs zu verteufeln oder eine fundamentalistische Kapitalismuskritik zu üben. Wir alle sollten uns aber Gedanken darüber machen, wie wir in Zukunft die Grenzen des „Ichs“ oder des „Wir“ so auszudehnen vermögen, dass wir gemeinsam den größtmöglichen Gewinn daraus erwirtschaften. Wenn es stimmt, dass vier Augen mehr sehen als zwei, zwei kluge Köpfe bessere Ideen ausbrüten als einer, dann wird es höchste Zeit, dass wir diesen Gedanken auch in unsere Unternehmen tragen und ihn dort zu einem zentralen Wirkungsprinzip erklären. Merke: Vernetzung beginnt immer in den Köpfen!

Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass gerade mittelständische Unternehmen die Vorteile der Vernetzung in einer globalisierten Welt nutzen müssen, um ihr Überleben langfristig zu sichern. Das erfordert aber eine andere Art der Unternehmensführung, der Arbeitsorganisation, der Produktentwicklung, der Fertigung und des Service. Das heißt nicht mehr und nicht weniger als die Notwendigkeit, das eigene Unternehmen fit zu machen für eine Zukunft, in der Digitalisierung und Vernetzung die treibenden Faktoren der mittelständischen Wirtschaft sein werden.

 

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