Gedankensprung von Agra zu Google

In loser Folge wiederhole ich hier einige der beliebtesten Posts seit Beginn des Cole-Blog im Januar 1995. Dieser Beitrag erschien erstmals am 8. Juli 2008.

 

Tuk-Tuk-Abenteuer: Alte Märkte und Gewürzpfade von Agra | GetYourGuideEs ist viel vom „Mitmach-Internet“ die Rede, von der Demokratisierung der Medien, von der neuen Vielfalt der Meinungsäußerung. Und natürlich finden das alle gut.

Ich bin mir mittlerweile nicht mehr ganz so sicher. Mein Schlüsselerlebnis fand vor ein paar Jahren in Agra statt, der Stadt des an ästhetischem Anmut nicht zu überbietenden Grabmals Taj Mahal, aber auch einem Grad an Dreck und Verkehrschaos, wie er selbst in Indien selten erreicht und niemals übertroffen wird.

Er entzündete sich an unserem Wunsch, zum Abendessen ein anderes als das etwas dröge Hotelrestaurant aufsuchen zu wollen, wozu ich mich, wie es inzwischen meine Gewohnheit ist, bei Google auf die Suche machte. Ich fand auch relativ schnell bei „tripadvisor.com“ eine Liste von Restauranttipps, die alle von ein und derselben offenbar jungen Dame stammten, die Agra wohl ziemlich intensiv bereist hatte und ihre Erfahrungen nun anderen als Orientierungshilfe anbot.

Vielleicht sollte ich voran setzen, dass ich ein leidenschaftlicher Fan von „echtem“  indischen Essen bin. Wir haben in Jaipur in einem vegetarischen Restaurant, dem „Four Seasons“, die köstlichsten Dal-Currys und andere Thalis verspeist und bei jedem Bissen genossen, wie die Sonne immer wieder in den prachtvollsten Farben im Mund aufzugehen scheint. Und in einem „Southern Indian Family Restaurant“ in Bangalore habe ich eine Rasansuppe gegessen, obwohl mich der Keller davor ausdrücklich warnte. „It is very hot“, sagte er beim Servieren. Ich nahm einen Bissen, und nachdem mein Kopf aufgehört hatte zu explodieren sagte ich zu ihn: „It is very hot – but very good!“

Jedenfalls empfahl diese junge Dame fünf oder sechs Lokale, wobei ich eigentlich bereits bei der ständigen Wiederholung des Wortes „multi-cuisine“ hätte hellhörig werden sollen. Dann hätte ich mir die Lektüre des letzten „Tipps“ vielleicht sparen können. Ihr „absolutes Lieblingslokal“ in Agra, so schrieb die dreiste Food-Kritikerin, sei nämlich der Pizza Hut, und zwar deshalb, „weil ich indisches Essen überhaupt nicht mag.“

Es drängen sich an dieser Stelle eine ganze Reihe von Fragen auf. Zum Beispiel: „Warum fährst du dann ausgerechnet nach Indien, du dusselige Kuh?“ Die sehr viel bedeutendere Frage ist: „Warum mutest du uns deine dämliche, völlig irrelevante Meinung überhaupt zu? Warum hälst du nicht die Schnauze und schämst dich?“

Ich bin also in einem Paradoxon gefangen, auf den der Kreter Epimenides stolz gewesen wäre. Einerseits ist gerade für mich als liberal denkender Amerikaner die Meinungsfreiheit oberstes kulturelles Gut. Oder, wie Voltaire es sinngemäß sagte: „Ich verabscheue das, was Sie sagen, aber ich würde mein Leben geben um Ihr Recht zu verteidigen, es zu sagen.“

Andererseits finde ich es bodenlos, wenn jemand die Meinungsfreiheit, die das Internet uns beschert hat, dazu verwendet, um völlig irrelevantes Geseiere abzusondern.

Wo genau die Grenzen der Meinungsfreiheit zu ziehen sind, hat Generationen von Staatsrechtlern beschäftigt, und eine Einigung ist nicht in Sicht. Am ehesten sind sich die Experten wohl einig, dass sie dort erreicht ist, wo sie die Grundrechte anderer empfindlich stört, ihn also nachweisbar in seiner Menschenwürde oder seinem Besitzstand schädigt. Der Unterschied ist nur, dass diese Frage bislang relativ selten im Zusammenhang mit irgendwelchen Grundsatzurteilen in der Praxis von Bedeutung war.

Wenn das Internet zu einer massenweisen Ausbreitung der Meinungsäußerung führt, dann wird zwangsläufig auch die Zahl der Störfälle steigen. Wer gibt mir meine zehn Minuten wieder, die diese Frau mir von meiner kostenbaren Reisezeit gestohlen hat? Was sind 600 Sekunden Indien wert? Und wo soll ich sie denn einklagen?

Vielleicht bei Tripadvisor! Die haben mir das Ganze schließlich eingebrockt. Was die interessante Ideenfolge erlaubt, ob Suchmaschinen eines Tages für die Qualität ihre Treffer haftbar gemacht werden können. Immerhin wollen sich die Betreiber ja zunehmend durch die Relevanz der Ergebnisse profilieren. Microsoft hat zum Beispiel angekündigt, den Generalisten Google durch Spezial-Suchmaschinen, etwa für Online-Shopper, Paroli bieten zu wollen und hat dafür viel Geld in den Kauf von ciao.com investiert.

Quaere:  Wenn ich aufgrund einer solchen Empfehlung einen Fehlkauf lande – kann ich Microsoft womöglich in Zukunft auf Schadensersatz verklagen?

Das ist zugegeben ein weiter Gedankensprung von einer Restaurantsuche in Agra, aber nach Agra ist ja ohnehin ein ziemlich weiter Weg…

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