Verstehen in Echtzeit, oder: Von der Kunst, genauso schnell zu verdauen wie man isst

Synchronisationsalgorithmen verstehen | heise onlineSo schnell, wie die Leute heute schreiben, kann ich überhaupt nicht reden. Aber wo bleibt da der Genuss? Im Internet-Zeitalter wird wirklich alles schneller: Du sitzt noch auf der Bühne, da kommt schon das erste Feedback!
Ort der Handlung: Das Kongresszentrum in Dresden. Im Saal sitzen 500 vornehm gekleidet Damen und Herren. Um Punkt 10:05 eröffnet der Moderator das Programm. Um 10:55 bittet mich der Moderator auf die Bühne, um mein Keynote zu geben. Die dauert exakt 15 Minuten. Als der Applaus losgeht, ist es 11:10.

Als Gero von Rando auf den „send“-Knopf drückt, wird immer noch geklatscht. Seine Mail trägt den Zeitstempel 11:11 und lautet: „Great speech, thanks! Gero“

Nur fünf Minuten später – gerade beginnt die Podiumsdiskussion – kommt die nächste. Sie stammt von Robert Eysoldt und wurde um 11:16 abgeschickt. Text: „hallo herr cole, gute keynote! kurzer hinweis: „werner v. braun“ schreibt sich „wernher v. braun“. Letzteres bezieht sich auf einen (inzwischen korrigierten) Tippfehler auf meiner Homepage. Der Mann hat also auch noch Zeit gefunden, um zwischendurch zu surfen.

Falls Sie sich also auch gefragt haben, was die Leute gerade tun, die auf Konferenzen mit aufgeklappten Laptops sitzen, dann wissen wir es jetzt: Sie betreiben Echtzeit-Verarbeitung.

Früher hieß das: Zum einen Ohr rein, zum anderen raus. Heute führt die Verbindung direkt vom Ohr in die Fingerspitzen und von dort in die Tastatur.

Bevor meine Frau wieder sagt, ich würde alles nur negativ sehen, lassen Sie mich klarstellen: Ich finde es toll, dass wir heute jederzeit und überall kommunizieren können. Ich gehe niemals ohne mein Handy weg, und ich ziehe am Tag sicher ein paar dutzendmal Mail. Ich schreibe oft meine Blog-Einträge im Zug oder in der Lufthansa-Lounge direkt im Anschluss an irgendwelche Events oder Konferenzen.

Aber ich mache mir zugleich Sorgen über den Druck, den die Technik auf uns ausübt. Auf einer Konferenz in München im vergangenen Mai wetteiferten die anwesenden jungen amerikanischen Internet-Gurus darum, wer als Erster von München aus gepostet hatte. Der Eintrag war meist schon fertig, bevor der Vortrag zu Ende war.

Das ist weder gut noch schlecht – es ist so!

Ich weiß, dass wir im Zeitalter der geteilten Aufmerksamkeit leben, des „partial attention syndrome“, in der wir wie Computer im Multitasking-Modus gleichzeitig mehrere Dinge tun können (müssen). Aber ich kann nur hoffen, dass der Neue Mensch im Internet-Zeitalter auch in der Lage sein wird, die Verarbeitung des Gehörten parallel und in Echtzeit vorzunehmen. Bei mir scheint es nämlich immer noch einen gewissen Versatz zu geben linker und rechter Hirnhälfte zu geben.

Ich habe nichts gegen „slow food“, aber wenn ich richtig genießen will, esse ich gerne langsam.

PS: Nur der guten Ordnung halber bleibt festzuhalten, dass ich selbst die Mails nicht etwa auf der Bühne, sondern später beim Mittagessen abgerufen habe. Meiner Verdauung hat das keinen Abbruch getan…

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