Tim Cole ist doch nicht umsonst gestorben

Kandidaten für die Todeszelle: Tim Calvin Cole (links), Tim Brian Cole (rechts)
Die Todesstrafe wurde in der Bundesrepublik mit der Einführung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 offiziell abgeschafft. Allerdings richteten die Alliierten bis 1951 noch 284 Ex-Nazis im so genannten Kriegsverbrechergefängnis in Landshut hin, und auch in der DDR bestand sie noch bis 1987 fort. Inzwischen gilt sie als ein Relikt der Barbarei, und gerade hier in Deutschland deutet man mit entrüstetem Zeigefinger auf Amerika, wo sie in 34 Bundesstaaten nach wie vor im Gesetzbuch steht.

Ich selbst teile diese Ansicht, fühle mich aber auch in besonderer Weise betroffen, denn gleich zwei meiner Namensvetter sind nur knapp der staatlichen Blutrache entkommen.

Der erste, Tim Calvin Cole, saß 22 Jahre lang in einer Todeszelle in Texas, weil er einen Mann mit einer Hundeleine erwürgt hatte. Das Oberste Bundesgericht wandelte die Strafe in Lebenslänglich um.

Der Fall von Tim Brian Cole, ein schwarzer Student an der Texas Tech University, schrieb sogar amerikanische Rechtsgeschichte. 1985 sollte er wegen Vergewaltigung an einer Weißen zum Tode verurteilt werden, kam aber schließlich mit 25 Jahren Zuchthaus davon. In Wahrheit war er unschuldig: 1995 legte der wahre Täter ein Geständnis ab. Tim Cole nützte das nichts: Er starb 1999 im Gefängnis an einem unbehandelten Asthmaanfall.

2009 wurde ein nach ihm benanntes Gesetz in Texas verabschiedet, das unschuldig Verurteilten eine Entschädigung verspricht. Außerdem wurde ein Expertengremium namens „Tim Cole Advisory Panel on Wrongful Convictions“ etabliert, das die Ursachen von Fehlurteilen dieser Art untersuchen und Vorschläge für deren Abhilfe vorlegen sollte. Gouverneur Rick Perry, der heute als einer der aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten der Republikaner und absoluter Anhänger der Todesstrafe gilt,  unterzeichnete 2010 die Begnadigungsurkunde – das erste derartige Dokument in der Geschichte von Texas.

Texas ist im Übrigen der Bundesstaat, der die mit weitem Abstand meisten Todesurteile in den USA vollstreckt hat – laut Wikipedia genau 1.226. Der Eintrag stammt vom September 2011, also könnten inzwischen noch ein paar dazu gekommen sein.

Ich habe das, wie die meisten meiner deutschen Bekannten, stets für einen Zivilisationsmangel gehalten, des Verharrens der Mehrheit meiner Landsleute in einer archaischen „Auge-um-Auge“-Kultur. Umso mehr hat es mich gefreut, als ich jetzt in den New York Times einen kurzen Leitartikel las, in dem die Ergebnisse einer neuen Meinungsumfrage des renommierten Gallup-Instituts kommentiert wurden und in dem es hieß, die Zustimmung für die Todesstrafe sei in den USA auf ein historisches Tief gefallen: Von 80 Prozent im Jahr 1994 ist die Zahl der Befürworter auf 51 Prozent gesunken. Immer noch viel zu viel, mögen Sie einwenden, und Sie hätten natürlich Recht. Aber es lohnt sich, etwas genauer hinzusehen.

Erstens ist die Zahl der zum Tode verurteilten in den letzten 35 Jahren um fast zwei Drittel gesunken. Gerichte verwenden dieses letzte Mittel der staatlichen sanktionierten Vergeltung also immer seltener. Was aber noch aufschussreicher ist: Von den 3.147 Landkreisen in den USA wurde nur in jedem Siebten ein Todesurteil gefällt. Rechnet man das um, dann lernt man, dass Gegenden, in denen nur ein Achtel aller Amerikaner leben, für zwei Drittel aller Kapitalstrafen verantwortlich sind. Die Todesstrafe ist also selbst in Amerika ein ausgesprochen regionales Phänomen. Selbst in Texas, dem angeblich so blutrünstigen Südstaat, haben nur vier der insgesamt 254 Landkreise die große Mehrzahl der Todesurteile produziert.

16 Bundesstaaten haben die Todesstrafe inzwischen abgeschafft. In acht der 34 Staaten, in denen sie noch legal ist, wurde seit mindestens zwölf Jahren keiner mehr hingerichtet. Die Zeiten ändern sich, und auch in meiner Heimat scheint die Hinrichtung ein Auslaufmodell zu sein.

Der Harvard-Psychologe Steven Pinker behauptet in seinem neuen, extrem lesenswerten Buch, Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit, dass der Zivilisationseffekt über Zeit zu einer Abnahme der Gewalt führt. In einem aktuellen Interview des Spiegel wurde er gefragt, ob Amerika auf einer niedrigeren Zivilisationsstufe stehe als Europa, weil dort die Gewaltbereitschaft nicht nur des Einzelnen, sondern auch der Gesellschaft viel größer sei als hier. Er antwortete etwas ausweichend: „Ich denke, es ist ein Lernprozess, wobei die Fähigkeit, zu überlegen und daraus zu lernen, natürlich selbst Bestandteil der menschlichen Natur ist.“

Anders ausgedrückt: Es besteht Hoffnung, dass Amerika seine staatlich sanktionierte Rachelust eines Tages ganz ablegen wird. Ich selbst denke, das Beispiel meines Namensvetter deutet darauf hin, dass dieser Lernprozess in den USA bereits im Gange ist. Wenn ja, dann ist er nicht ganz umsonst gestorben.

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