Die Macht der Virologen, oder: Was kostet ein Menschenrecht?

Wir erleben in Europa nicht nur eine schreckliche Pandemie, sondern auch den größten Angriff auf die Menschenrechte seit 1945. Covid-19 muss als Entschuldigung herhalten für das Aussetzen der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), der Freizügigkeit (Art. 11), der Berufsfreiheit (Art. 12) und der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2). In Österreich wird sogar – mit breiter Zustimmung aus der Bevölkerung – über die zwangsweise Einführung einer App nachgedacht, um die Bewegungen jedes Bürgers aufzeichnen um notfalls nachweisen zu können, wer sich mit wem getroffen und dabei womöglich den Virus weitergegeben haben könnte – ein Angriff auf das Fernmeldegeheimnis (Artikel 10).

Ich diskutiere mit meinen Facebook-Freunden gerade sehr engagiert über dieses Thema, wobei es ungefähr 2 zu 1 zwischen denen steht, die mich für ein zynisches, empathieloses Arschloch halten (was einige sogar dazu bewogen hat, mich zu „entfreunden“) und denen, die mir mehr oder weniger kritisch zustimmen.

Ich habe mir erlaubt, darauf hinzuweisen, dass jedes Jahr weltweit vermutlich zwischen 290.000 und 645.000 Menschen an Atemwegserkrankungen infolge einer Influenza-Infektion sterben, so die neueste Schätzung eines internationalen Forschernetzwerks unter Federführung der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC. (Quelle: Pharmazeutische Zeitung). Aber keiner käme auf die Idee, deswegen Grundrechte auszusetzen.

Äpfel und Birnen

Natürlich weiß ich, dass ich in gewissem Sinne Äpfel und Birnen vergleiche, denn Coronaviren können grundverschieden sein, und von Covid-19 wissen wir viel zu wenig. Es könnte ähnlich sein wie sein enger Verwandter, das SARS-CoV, das gleich zweimal zuschlug, nämlich 2002 und 2004, das aber beinah ebenso schnell wieder verschwand, wie es gekommen ist dank schneller Isolierung der Befallenen und rigorosem Testen von Reisenden aus den befallenen Gebieten. Insgesamt gab es 8.098 gemeldete Fälle von SARS und 774 Todesfälle.

MERS-CoV (Middle East Respiratory Syndrome Coronavirus) trat 2012 zunächst in Saudi-Arabien auf und wurde anfangs auch als eine Riesenbedrohung der Menschheit dargestellt. Tatsächlich gab es aber nur 2.494 Fälle und 858 Tote.

Ein Jahr später tauchte das als „Vogelgrippe“ bekanntgewordene Influenzavirus A H7N9 auf und verursachte 1.568 Erkrankungen und führte zu 616 Todesopfern. Jede dieser Viren war anders, sowohl in der Ausbreitungsgeschwindigkeit als in der Mortalität.

Vor allem der Vergleich mit der „gewöhnlichen“ Grippe führt nicht weiter, zumal wir dafür Impfstoffe haben und gegen Covid-19 (noch) nicht. Grippeviren verändern sich regelmäßig, was stets die Entwicklung neuer, oder wenigstens die Anpassung des alten Impfstoffs vom Vorjahr erforderlich macht.

Wir wissen, dass wir nichts wissen

Von Covid-19 wissen wir (noch) nicht, ob und wie schnell es mutiert. Wir wissen nicht, wie viele Menschen sich tatsächlich angesteckt haben, wie tödlich das Virus ist, wo er wirklich herkommt und welche Rolle Kinder bei der Verbreitung spielen, ob es wie die Grippe bei warmem Wetter von alleine verschwinden wird und wie lange ein Genesener danach immun gegen eine Wiederansteckung ist. Das sind eine Menge Unbekannter in der Gleichung, und das macht vielen Menschen verständlicherweise Angst.

Was wir aber mit ziemlicher Sicherheit wissen ist, dass die Maßnahmen gegen Covid-19 ohne Rücksicht auf die Menschenrechte der Bürger in Europa und Amerika beschlossen worden sind. Die einzigen, die heute das Ohr der Politiker haben, sind Virologen und Pandemieexperten. Hat denn in jüngster Zeit jemand meinen Freund Dieter Kempf, seines Zeichens Präsident des BDI und damit Deutschlands oberster Industrieller, nach seiner Meinung gefragt? Die Politik wohl nicht – auch nicht Frau Merkel.

Wir wissen aber, dass es gerade diese Maßnahmen sind, die drohen, die größte Weltwirtschaftskrise seit 1929 auslösen.

Wir hier in Europa auf unserer Insel der Seligen, ausgestattet mit einem üppigen sozialen Auffangnetz, mit Kranken- und Arbeitslosenversicherung, mit Härtefall-Fonds und Kurzarbeitsgeld, haben keine Ahnung, was das für den Rest der Welt gerade bedeutet. Aber wir sind trotzdem bereit, unsere Grundrechte herzugeben – für die unsere Ahnen gekämpft, geblutet und gestorben sind, und um die uns der Rest der Welt beneidet!

Viren töten – Wirtschaftskrisen auch!

Bevor alle jetzt zu Facebook wechseln und mich aus ihren Freundeslisten streichen, lasst mich bitte klarstellen: Ich bin für Quarantäne bei Infektionsverdacht. Ich bin dafür, Ärzte und Pflegepersonal besser auszurüsten und zu schützen. Ich übe selbst seit mehr als zwei Wochen soziale Distanzierung, trage Handschuhe und Maske beim (seltenen) Gang zum Supermarkt, und ich wasche mit täglich mehrmals die Hände.

Aber ich bin absolut gegen dieses panikartige Herunterfahren der gesamten Volkswirtschaft, das ungeahnte, aber mindestens ebenso katastrophalen Folgen haben wird – auch tödliche!

Das betrifft zum einen alle Menschen ohne ausreichende Krankenversicherung – in Amerika sind das immerhin fast 28 Millionen. Rund 12 Millionen davon sind so genannte „nichtdokumentierte Fremde“. Und es sind mehr als 500.000 Obdachlose darunter, die sich beim besten Willen nicht zu Hause einsperren können – sie haben ja keines – und denen es auch schwerfällt, sich regelmäßig die Hände zu waschen.

Es betrifft auch Millionen armer Menschen nicht nur in der Dritten Welt, denen die Lebensgrundlage entzogen wird und denen schlimmstenfalls der Hungertod droht. Und es betrifft Millionen auch bei uns, die aus Angst vor Arbeitslosigkeit und der Vernichtung ihrer Existenzgrundlage den Freitod suchen werden, wie die Spekulanten an der Wall Street, die 1928 lieber aus dem Hochhausfenster gesprungen sind als in den wirtschaftlichen Ruin zu starren.

„Wir haben gar keine Wahl“, sagte Donald Trump letzte Woche, nachdem er eine Verlängerung der Richtlinien zur sozialen Distanzierung in den USA bekanntgegeben und sich selbst gleich zweimal hatte testen lassen – ohne Ergebnis. Wie so vieles, was The Donald von sich gibt, war das leider auch gelogen: Eine Wahl gibt’s immer. Fragt sich nur, welche.

Es blieb – wieder einmal – der besten Wirtschaftszeitung der Welt, dem Economist, vorbehalten, die verbotene Frage zu stellen, nämlich: „Um welchen Preis?“

Die Instinktreaktion der meisten Menschen, vor allem derjenigen, die für uns die politischen Entscheidungen über die Reaktion auf Covid-19 treffen müssen, scheint zu lauten: „Um keinen!“ Die Vorstellung, dem Leben eines Menschen einen monetären Wert beizumessen und die Messlatte des Utilitarismus mit seiner rein zweckorientierten Ethik („der größte Nutzen für die meisten Menschen „) in einer Pandemie anzuwenden, ist ihnen ein Gräuel.

Geld oder Leben

Dabei ist die Bewertung von Menschenleben längst ein akzeptiertes statistisches Werkzeug in einer ganzen Reihe anerkannter Disziplinen wie Wirtschaft, Gesundheitswesen, Adoption, politische Ökonomie, Versicherung, Arbeitssicherheit, Umweltverträglichkeit und Globalisierung. Ja, unsere Rechtssysteme zumindest in zivilisierten Ländern bauen auf dem Grundsatz auf, dass ein Menschenleben unbezahlbar ist, seine Würde unantastbar. Deshalb sind wir uns ja auch alle einig, dass Sklaverei unmenschlich ist.  Aber in der Tagespraxis, nämlich überall dort, wo wir mit einem begrenzten Angebot an Ressourcen oder infrastrukturellem Kapital (z.B. Krankenwagen) oder Fertigkeiten konfrontiert sind, ist es oft einfach unmöglich, jedes Leben zu retten. In einem solchen Fall müssen wir gewisse Kompromisse eingehen.

Das Wissen um den Wert des Lebens ist hilfreich bei der Durchführung einer Kosten-Nutzen-Analyse, insbesondere im Hinblick auf die öffentliche Ordnung. Um zu entscheiden, ob sich eine Politik lohnt oder nicht, ist es wichtig, Kosten und Nutzen genau zu messen. Öffentliche Programme, die sich mit Dingen wie Sicherheit (z.B. Autobahnen, Krankheitskontrolle, Wohnen) befassen, erfordern genaue Bewertungen, um die Ausgaben zu budgetieren.

Wo Ressourcen begrenzt sind, sind Kompromisse unvermeidlich, selbst bei möglichen Entscheidungen über Leben oder Tod. Die Zuweisung eines Wertes für das individuelle Leben ist ein möglicher Ansatz, um zu versuchen, rationale Entscheidungen über diese Kompromisse zu treffen. Unterschiedliche Länder weisen einem Menschenleben durchaus unterschiedliche Werte zu. In den USA legt man bei der Behandlung von Nierenerkrankungen einen so genannten „Dialyse-Standard“ an, der zwischen $50.000 und 60.000 liegt. Stanford-Professor Stefanos Zenios, dessen Team die Kosteneffizienz der Nierendialyse berechnete, fand heraus, dass der Wert eines Lebens („Value of Statistical Life„, oder VSL), der die damalige Dialysepraxis impliziert, im Durchschnitt etwa $129.000 USD pro qualitätsbereinigtem Lebensjahr (Quality Adjusted Life Year, oder QALY) beträgt. Er fasste das so zusammen: „Wenn Medicare für die Behandlung von Patienten durchschnittlich $129.000 zusätzlich zahlen würde, erhielten sie im Durchschnitt ein weiteres qualitätsbereinigtes Lebensjahr“.

Der tägliche Kuhhandel um Menschenleben

Genau in diese Wunde bohrt der Economist, wenn er in seiner aktuellen Titelstory auf die Notwendigkeit des Abwägens hinweist. Solche Kuhhandel, so die Autoren, müssen Ärzte in den Zeiten von Covid-19 jeden Tag vornehmen, oft unter furchtbarem moralischem Druck:

Eine allgemeine Lösung, die sowohl von Moralphilosophen als auch von Ärzten angeboten wird, besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Ressourcen – in diesem Fall Personal, Material und Ausrüstung – auf die Patienten ausgerichtet werden, die die größten Chancen auf eine erfolgreiche Behandlung und die die größte Lebenserwartung haben. Aber hinter einer so einfach erscheinenden utilitaristischen Lösung liegen einige brutale Entscheidungen.

Nehmen Sie den Mangel an Beatmungsgeräten. Viele Patienten, die mit Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert werden, werden irgendwann eines brauchen. Wenn man es zu früh zur Verfügung stellt, verzichtet ein anderer auf ein Beatmungsgerät. Wenn es aber wirklich gebraucht wird, wird es schnell gebraucht werden. In einem Artikel des ‚New England Journal of Medicine‘ heißt es, wenn Beatmungsgeräte von Patienten, die von ihnen abhängig sind, zurückgezogen werden, werden diese ‚innerhalb von Minuten sterben‘.

Die Entscheidung über die Beatmung wird dann zu einer Entscheidung über Leben oder Tod. Kommt ein junger Patient an, der ein Beatmungsgerät benötigt, und es steht keins zur Verfügung, könnte man ja ein solches Gerät von einem anderen Patienten entfernen, der als weniger überlebenswahrscheinlich gilt. In Extremsituationen kann es sogar jemandem abgenommen werden, der zwar überleben könnte, der aber eine kürzere Lebenserwartung hat. Solche Rahmenbedingungen begünstigen weder ältere Patienten noch solche mit Gesundheitsproblemen.

Covid-19, so der Economist, verlangt viele solcher „trade-offs“ in allen Bereichen. Jede Maßnahme hat Folgen, viele von ihnen unerwartet. Deshalb sei es wichtig, wenn Entscheidungen auf einer möglichst breiten Datenbasis und transparent getroffen werden. Der Bürger muss wissen, warum von ihm Opfer und Verzicht bis hin zur Aufgabe seiner Grundrechte verlangt wird. „Wir hatten keine andere Wahl“ genügt nicht zur Begründung.

Kompromisse, so weit das Auge reicht

Idealerweise sollten weltweit die gleichen Entscheidungsvoraussetzungen gelten. Das ist jedoch offensichtlich nicht der Fall. Wohin man auch schaut, Covid-19 wirft ein Miasma solcher Kompromisse auf. Wenn Florida und New York unterschiedliche Ansätze verfolgen, begünstigt das zwar die Innovationen und führt zu Programmen, die auf die lokalen Bedingungen und Präferenzen der Bevölkerung abgestimmt sind, birgt aber auch die Gefahr, dass die Fehler eines Staates auf andere Staaten übergreifen. Wenn China seine Grenzen für Ausländer fast vollständig schließt, stoppt es importierte Infektionen, aber es behindert auch ausländische Unternehmen. Eine gewaltige Anstrengung zur Herstellung und Verteilung von Covid-19-Impfstoffen wird Leben retten, aber sie könnte Programme beeinträchtigen, die Kinder vor Masern und Polio schützen.

Der Economist fordert vor diesem Hintergrund Regierungen auf, sich an drei Prinzipien zu halten. Die erste sei Systematik. Die nach dem Dialyse-Standard errechneten $60.000 sind ist kein echtes Geld, sondern eine buchhalterische Hilfsgröße, die es erlaubt, sehr unterschiedliche Dinge wie Leben, Arbeitsplätze und den Kampf um moralische und soziale Werte in einer komplexen Gesellschaft zu vergleichen. Je größer die Krise, desto wichtiger sind solche Messungen. Wenn ein Kind in einem Brunnen festsitzt, wird der Wunsch nach grenzenloser Hilfe vorherrschen – und das sollte auch so sein. Aber in einem Krieg oder einer Pandemie können die Verantwortlichen nicht der Tatsache entgehen, dass jede Maßnahme enorme soziale und wirtschaftliche Kosten verursacht. Um verantwortungsbewusst zu sein, muss man sich gegeneinander abwägen.

Deshalb müsse das zweite Prinzip sein, vernünftige Kompromisse einzugehen, um denjenigen zu helfen, die auf der Verliererseite stehen. Arbeitnehmer, die bei Zwangsschließungen entlassen wurden, verdienen zusätzliche Hilfe; Kinder, die in den Schulen keine Mahlzeiten mehr bekommen, müssen mit Lebensmitteln versorgt werden. Ebenso muss die Gesellschaft den Jungen helfen, wenn die Pandemie abgeklungen ist. Obwohl die Krankheit sie weniger stark bedroht, wird der größte Teil der Last auf sie fallen, heute und in Zukunft, wenn die Länder ihre zusätzlich aufgenommenen Kredite und damit die Zeche fürs Überleben zurückzahlen müssen.

Als dritten Grundsatz fordert der Economist die Länder auf, sich anzupassen. Das Verhältnis von Kosten und Nutzen werde sich im Laufe der Pandemie verändern. Ausgangssperren kaufen wertvolle Zeit. Wenn sie aufgehoben werden, wird sich Covid-19 wieder unter den noch anfälligen Menschen ausbreiten. Aber die Gesellschaften müssten sich inzwischen auf die nächste Welle vorbereiten – was sie leider vor der Ersten nie getan haben. Sie müssten ihre Gesundheitssysteme massiv aufrüsten, mit mehr Notfallbetten, mehr Beatmungsgeräten und zusätzliches und besser ausgebildetes – und bezahltes – Personal. Sie können neue Wege zur Behandlung der Krankheit untersuchen und eine Armee von Test- und Suchteams rekrutieren, um neue Cluster auszulöschen. All das würde die Kosten für die Öffnung der Wirtschaft senken.

Aber niemand kann garantieren, dass neue Behandlungsmethoden gefunden werden, und die neuen Tests könnten scheitern. Egal wie es ausgeht, unsere Volkswirtschaften werden bis zum Sommer zweistellig schrumpfen. Die Menschen werden monatelang in geschlossenen Räumen gelebt haben, was sowohl dem sozialen Zusammenhalt als auch ihrer psychischen Gesundheit schadet. Eine jahrelange Abriegelung würde Amerika und die Eurozone etwa ein Drittel des Bruttoinlandprodukts kosten. Die Märkte würden zusammenbrechen und Investitionen versickern. Die Kapazität der Wirtschaft, sich selbst am eigenen Zopf aus dem Schlammassel zu ziehen, würde verkümmern. Die Innovation geriete ins Stocken, wichtige berufliche Fähigkeiten verkümmern. Selbst wenn viele Menschen sterben, könnten die Kosten der Distanzierung am Ende des Tages größer sein als die Vorteile. Das ist eine Seite der Kompromisse, die noch niemand zuzugeben bereit ist.

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