Es gibt seit gestern keine sozialen Medien mehr

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Der Sturm aufs Capitol in Washington markiert einen Wendepunkt in der Geschichte, und zwar der Geschichte der sozialen Medien. Was manchem vielleicht eher als Fußnote erscheinen mag, markiert in Wirklichkeit das Ende von Twitter, Facebook & Co. wie wir sie kennen.

Viele haben den Entschluss von Mark Zuckerberg und Jack Dorsey, Donald Trump endlich de facto mundtot zu machen, als längst überfällige Schutzmaßnehme der Gesellschaft vor einem Präsidenten gefeiert, der die Demokratie, die er zu schützen gelobt hat, untergräbt und in Frage stellt und dazu die „sozialen“ Medien auf geradezu asoziale Art und Weise missbraucht.

Vor genau diesem Schritt haben sich die Chefs der großen Plattformen bislang gedrückt. „Ich glaube nicht, dass Facebook und andere Internet-Plattformen Schiedsrichter der Wahrheit sein sollten“, sagte Zuckerberg noch im Mai in einem Interview auf CNBC. „Die politische Rede ist eine der empfindlichsten in einer Demokratie, und die Leute sollten sehen können, was Politiker sagen.“  Das war ein klarer Seitenhieb auf Dorsey, der sich lange geweigerte hatte Trump-Tweets einem Faktencheck zu unterziehen. Als er sich doch dazu durchrang, dann nur in Form eines ziemlich unauffälligen Etiketts mit dem Text „„Holen Sie sich die Fakten zum Thema Briefwahl“ und einem Link auf vermeintlich neutrale Newsquellen.

Seit gestern ist Trumps Stimme auf beiden Kanälen verstummt. Facebook und seine Tochterplattform Instagram sperrten ihm „auf unbestimmte Zeit“ die Konten, Twitter ging sogar noch weiter und verbannte Trump nicht nur „dauerhaft“, sondern auch andere Konten, die mit dem Präsidentenamt verbunden sind, wie @POTUS und @WhiteHouse, wo Trump sofort versucht hatte, entweder selbst oder durch seine Schergen weiterhin Lügen-Tweets zu verbreiten.

Es gab für dieses angeblich ach so mutige Vorgehen der Plattform-Bosse viel Beifall von Links und die zu erwartende Kritik von rechts. Was aber offenbar keinem so wirklich klar wurde ist, dass Twitter und Facebook in diesem Moment eine Metamorphose in Gang gesetzt haben, deren Ausgang niemand exakt vorhersagen kann.

Eines ist aber klar: Sie sind seit gestern keine sozialen Medien mehr, sondern ganz normale Medien, und für die gilt das Medienrecht. Diese spielt in die juristischen Teilbereiche des öffentlichen Rechts, des Zivilrechts und des Strafrechts hinein. Juristen sprechen deshalb von einer „Querschnittsmaterie“. Die klassischen Gegenstände des Medienrechts sind Presse, Rundfunk (Radio und Fernsehen) und Film. Mit dem Aufkommen neuer Medien sind die Bereiche Multimedia und Internet hinzugekommen.

Wer bislang aber außen vor stand waren die sozialen Medien. So schützt zum Beispiel in den USA Paragraph 230 Absatz 1 des US-Urheberrechtsgesetzes, der 1996 als Teil des umfassenden Telecommunications Act in Kraft trat, die Betreiber von Sozialen Medien vor Strafverfolgungs und Schadenersatzforderungen für Inhalte, die auf ihren Plattformen von Dritten – die Nutzer – publiziert werden. Es ist sozusagen das digitale Gegenstück zur „Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei“-Karte beim Monopolyspiel.

Dieses Spiel ist jetzt aber aus. Wenn Zuckerberg und Dorsey bestimmte Inhalte – von wem auch immer – zensieren, dann übernehmen sie damit direkte Verantwortung für diese Inhalte, genau wie der Chefredakteur einer Zeitung oder der Intendant eines Senders, die als „verantwortlich im Sinne des Presserechts“ im Impressum stehen müssen.

Indem Zuckerberg und Dorsey diese Verantwortung für Inhalte auf ihren Seiten übernommen haben, können sie sich nicht mehr mit dem Argument rausreden, es sei für sie unzumutbar, anstößige, illegale oder landesveräterische Inhalte selbst aufzuspüren und zu tilgen. Sie müssen ab Sofort bereits im Vorfeld dafür sorgen, dass ihre Seiten „sauber“ bleiben.

Das wird Aufwände verursachen, die ins Unermessliche steigen könnten. Nicht einmal die großen Internet-Konzerne werde diese Kostenblöcke so quasi aus der Portokasse begleichen können. Die Zeiten der Fabelgewinne von Facebook werden zu Ende gehen. Twitter wird mit einem großen Knall auf den Boden der Wirklichkeit zurückfallen, wenn sie Milliarden von Tweets in Echtzeit überprüfen müssen.

„There’s no such thing as a free lunch”, lautet in Amerika ein geflügeltes Wort. Zuckerberg, Dorsey & Co. werden in Zukunft eine Zeche zu bezahlen haben, und wir können gespannt sein zu sehen, wie sie das stemmen werden.

Andererseits ist klar, dass nationales Recht mit der Regulierung von weltweit operierenden sozialen Medien überfordert ist. Und hier könnte Europa, oder genauer gesagt der EU eine Schlüsselrolle zufallen. Ähnlich wie die Europäische Union sich beim Schutz persönlicher Daten (DSGVO) und bei der IT-Sicherheit (EU Cybersecurity Act)  eine weit über die Grenzen Europas hinauswirkende Gestaltungs- und Richtlinienkompetenz angeeignet hat, wird die medienrechtliche Behandlung sozialen Medienplattformen eine der vornehmsten Aufgaben der Union in den kommenden Jahren sein müssen.

Dass die Europäische Gemeinschaft Kompetenz für den Bereich der Medien übernimmt ist zwar neu, aber nicht unerhört. Im Dezember 1997 veröffentlichte die EU-Kommission ein Grünbuch zur Konvergenz von Telekommunikation, Medien und Informationstechnologien und hat darin Rahmenregelungen für die konvergierenden Mediensektoren aufgezeigt.

In Deutschland und in anderen Mitgliedsländern wurde die Kompetenz der EU für Regelungen im Medienbereich stark kritisiert. Immer wieder wird die kulturelle Bedeutung der Medien beschworen sowie das deutsche föderale Kompetenzenwirrwar, das die Kultur den Bundesländern zuweist. Der EuGH hat inzwischen vermittelnd eingegriffen, indem man der EU die Befugnis zugebilligt hat, Regelungen über grenzüberschreitende Medien-Dienstleistungen zu treffen. Mit dem Kulturartikel in Art. 151 EGV ist die Erhaltung und Förderung der kulturellen Vielfalt auch als europarechtliches Grundrecht festgeschrieben.

Doch es geschieht nicht Gutes, außer man tut es. Facebook, Twitter & Co. ins komplizierte Gebilde der Medienlandschaften einzubinden, wird viel Arbeit und Geduld kosten. Der erste Schritt ist aber getan, und zwar durch die Sozialen Medien selber. Indem sie Trump einen Maulkorb verpasst haben, haben sie eine viel größere Verantwortung übernommen – wahrscheinlich ohne, dass es ihnen selber überhaupt bewusste gewesen ist. Soziale Medien, wie wir sie kannten, gibt es seit gestern nicht mehr. Ich bin gespannt zu sehen, was aus ihnen wird…

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