Pulchinellas Geheimnis

Ach wie gut, dass niemand (angeblich) weiß…

Enrico Mordelli ist ein witziger Mann. Ein sehr gescheiter noch dazu: Als in Italien lebender Psycholanalyst und Informatiker kennt er das Seelenleben der Menschen genau wie das der Computer. Neulich hielt er in München einen Vortrag mit dem schönen Titel: „Geheimnisse und ihre Bedeutung im Zeitalter von Wikileaks“, in dem er über die neue Transparenz des Internet und die Folgen für unsere Gesellschaft sprach, was angesichts der vielen Schlagzeilen über Datenschwund und Identitätsdiebstahl gerade in letzter Zeit (Sony, Facebook, und so weiter) besonders aktuell ist. Mir hat in diesen Tagen die Russenmafia meine komplette Homepage gekapert und umgeleitet, was mir ziemlich viel Ärger und Aufwand eingehandelt hat, also habe ich aufmerksam zugehört.


Geheimnisse, sagt Mordelli, sind wichtig für unsere geistige Gesundheit. Wenn wir wüssten, dass alle alles über uns wissen, würde uns das verrückt machen. Unsere innersten Gefühle, Sehnsüchte und Angewohnheiten müssen geheim bleiben, weil es uns Ruhe und Ausgeglichenheit schenkt. In Wahrheit aber, behauptet er, ist nichts wirklich geheim, und daran lässt sich auch nichts ändern. Das ist so, seitdem es den Menschen gibt, denn der Mensch ist im Laufe seiner Entwicklung gewohnt gewesen, in dörflichen Gemeinschaften zu leben, und in einem Dorf ist nichts geheim.

„Jeder im Dorf weiß alles über alle anderen Bewohner, „ sagt Mordelli. „Sie wissen, wo jeder sich gerade befindet. Giovanni ist auf dem Feld und pflügt. Seine Frau ist mit dem hübschen Antonio droben im Heuboden und macht Liebe, und das weiß auch jeder. Aber alle tun so, als wüssten sie es nicht. Das muss auch so sein, weil sonst das friedliche Zusammenleben in einem Dorf unmöglich wäre.“

Das Internet ist schon häufig mit einem „globalen Dorf“ verglichen worden, und Mordelli glaubt, dass sich die Regeln deshalb direkt übertragen lassen. Er nennt das „Segreto di Pulchinella“ – das Geheimnis des Pulchinella. Pulchinella ist eine Figur aus der italienischen „Comedia dell’arte“, einer alten Theaterform, die im 16ten Jahrhundert auf den Jahrmärkten entstand und die Geschichten erzählt, die jeder in Italien kennt. In einer von ihnen erzählt jemand Pulchinella ein Geheimnis, schärft ihm aber ein: „Erzähle es bloß nicht weiter – es ist ein Geheimnis!“ Der arme Pulchinella kann keine Geheimnisse für sich gehalten, also erzählt er es nacheinander jedem der anderen Figuren im Stück, immer mit dem Hinweis, es sei geheim, also nicht weitersagen! Am Ende wissen alle Schauspieler, und natürlich auch das Publikum, genau was das Geheimnis ist, aber sie spielen weiter und tun so, als wüssten sie es nicht, was zu allerlei komischen Verwicklungen führt.

„Der moderne Datenschutz ist ein Segreto di Pulchinella“, sagt Mordelli. Daten hätten nun mal den Drang, sich zu fort zu bewegen. Das wüssten alle in der IT, aber sie tun so, als wüssten sie es nicht. Man gibt viel Geld aus für Schutzmaßnahmen wie Firewalls und Antivirensoftware, aber ob das wirklich etwas nützt, wenn ein unzufriedener Mitarbeiter Daten mit nach Hause nimmt und sie an WikiLeaks (oder an die Konkurrenz) weitergibt sei fraglich.

Das ist dann peinlich, eventuell sogar schädlich, aber es sei eben der Preis, den wir für die Segen des Digitalzeitalters zu zahlen haben. Man könne versuchen, sich davor zu schützen, besser sei es aber, wenn man mit dem Schlimmsten rechne und sich darauf entsprechend vorbereite. Und wenn etwas – Pucinella hin, Pulchinella her – unbedingt geheim bleiben muss? Ganz einfach, sagt Mordelli mit einem charmanten italienischen Lächeln: „Nun – dann speichern sie es am besten gar nicht auf dem Computer…“

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