Totale Transparenz, oder: Alles ist öffentlich

Not just Big Brother - everybody's watching you!

Not just Big Brother - everybody's watching you!

Die Causa Snowdon und Prism-Leak sind ein weiterer Beweis dafür, dass unsere Vorstellung von Privatheit im Digitalzeitalter hoffungslos veraltet ist. Na und?

Wie viele Dinge, die jetzt dank digitaler Beschleunigung ins Wanken geraten, ist Privatheit im Prinzip ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft des 18ten und 19ten Jahrhunderts. Der vielzitierte „Rückzug ins Private“ ist ja im Grunde genommen auch erst seit dieser Zeit möglich, denn ein prägendes Merkmal des Bürgertums ist seine Fähigkeit, sich abzuschotten gegen Einflüsse von außen und in einem eigenen, oft realitätsfremden Biotop zu existieren: Glücklich ist, wer vergißt!

Mit der Ausnahme dieses relativ kurzen Zeitabschnitts hat der Mensch stets in dörflichen oder Stammesgemeinschaften gelebt, also in relativ kleinen, überschaubaren und starren Systemen. Im Dorf gibt es kein Privatleben. Im Dorf weiß jeder alles über jeden –aber man tut so, als wüsste man es nicht.

Privatheit ist nicht nur eine relativ neue Erfindung, sie ist auch eine ausgesprochen westliche Idee. In allen asiatischen Gesellschaften spielt sie so gut wie keine Rolle, weil man sie gar nicht kennt. Sie wäre in der Regel auch gar nicht praktisch durchsetzbar. Selbst in der bürgerlichen Mittelschicht Indiens leben mehrere Menschen auf allerengsten Raum, in Japan sind Zimmer in vielen Wohnhäusern nur durch verschiebbare Wände aus Papier voneinander getrennt. Jeder Versuch, sich hier „ins Private“ zurückzuziehen, wäre von vorne herein zu Scheitern verurteilt. Jeder weiß, dass er jederzeit und schlagartig Mittelpunkt einer kleinen Versammlung von Familienmitgliedern, Nachbarn, Freunden oder Wildfremden werden kann.

Totale Transparenz ist also in weiten Teilen der Welt bereits gelebte Realität. Wer Teil einer solchen Gesellschaft ist, lebt nach einem ganz bestimmten moralischen Kodex, nämlich: Rechne immer damit, dass  alles, was du tust, entweder bereits öffentlich ist oder es ganz schnell werden kann. Darauf muss der Einzelne sein eigenes Verhalten ausrichten.

Japan ist dafür ein gutes Beispiel. Schon aufgrund der enormen Bevölkerungsdichte ist der Mensch dort selten mal alleine, und so hat sich eine besondere Art der Diskretion als allgemein anerkannte Spielregel herausgebildet. Wer nur durch eine dünne Wand aus Reispapier voneinander getrennt ist, bekommt zwangsläufig zumindest akustisch alles mit, was der andere macht. Jungen Japanerinnen ist zum Beispiel klar, dass jeder im Haus hören kann, wenn sie auf die Toilette gehen. Da Japanerinnen aber in der Regel äußerst schamhaft sind, empfinden sie die dabei zwangsläufig entstehenden Geräusche als extrem peinlich. Um sie zu übertönen, haben sich viele von ihnen angewöhnt, sobald sie Platz genommen haben, lang und anhaltend an der Wasserspülung zu ziehen. Da aber Trinkwasser in Japan relativ knapp ist, leiden viele dieser jungen Damen an einem chronisch schlechten Umweltgewissen. Das hat wiederum findige Unternehmer auf den Plan gerufen, die Geräte anbieten, die das Geräusch der Wasserspülung nachahmen. Ein bekannter Hersteller ist die Firma Otohime, was wörtlich „Geräuschprinzessin“ heißt. Solche Apparate gibt es heute in Japan auf fast allen öffentlichen Damentoiletten. Im Herrenklo hat es sich dagegen nicht durchsetzen können – auch in Japan ist den Herren der Schöpfung offenbar egal, wer ihnen dabei zuhört…

In Europa und den Vereinigten Staaten gibt es seit 2009 eine Bewegung, die sich „Post-Privacy“ nennt, was sich am besten mit „Was nach der Privatheit kommt“ übersetzen kann. Wie früher schon Technolibertinäre wie John Perry Barlow von der Electronic Frontier Foundation gehen sie von einem „Menschenrecht auf Information“ aus und fordern, dass Geheimhaltung und Datenschutz als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft und geahndet werden. Dazu gehören natürlich auch Informationen über Dinge wie soziale Kontakte, politische Einstellungen, das persönliche Weltbild, der Finanzstatus und der Gesundheitszustand. Für die Post-Privacy-Vertreter hat sich mittlerweile auch der Begriff „Spackeria“ eingebürgert. Es handelt sich um ein sogenanntes „Genusenwort“, was aus dem Holländischen kommt und in der Linguistik Wörter bezeichnet, die ursprünglich eine Personengruppe beschimpfen sollten, von dieser aber positiv umgemünzt werden, so wie das Wort „schwul“, das ursprünglich ein Schimpfwort war, aber heute von Homosexuellen selbst wie selbstverständlich verwendet wird.

„Spackos“, wie sie sich selber trotzig nennen, gehen davon aus, dass Datenschutz und der Schutz von Privatsphäre angesichts der großen Menge privater Daten im Internet und seiner einfachen Verteilbarkeit nicht unzeitgemäß, sondern vor allem aussichtslos sei. Die einzige wirksame Art, Informationen daran zu hindern, frei verfügbar zu sein, besteht für mache Spackos darin, sie gar nicht erst ins Netz zu stellen.

„Für klassische Datenschützer ist es ein Albtraum, was da vor sich geht“, schreibt der Netzpolitiker Stefan Münz auf seinem Blog „SELFHTML“. Und weiter: „Die meisten Politiker kommen rein gar nicht mehr mit. Scheinbar fahrlässig und wider alle Vernunft stellen immer mehr Power-User wissentlich über Services wie Gowalla oder Foursquare ihre vollständigen Bewegungsprofile offen ins Netz, während sich dieselben User in öffentlich zugänglichen Tweets und Postings vehement gegen staatliche Schnüffelvorhaben wie die Vorratsdatenspeicherung aussprechen. Das klingt widersprüchlich. Doch es ist eigentlich ganz einfach: diese Leute wollen einen Staat, der zu ihnen passt, einen transparenten, gläsernen Staat, der alles offenbart, was er über einen weiß. Unter ihresgleichen erleben sie das alles längst: OpenSource, Kooperation, offene Karten. Kein Traum von westlichem Sozialismus, wie einst oft beschworen in verrauchten Studentenkneipen weit nach Mitternacht, sondern gelebte Wirklichkeit. Kein verordneter Gleichschritt mit profitfeindlicher Grundeinstellung, sondern eher eine Laissez-faire-Haltung innerhalb einer Community der Vernetzten, die netzkonformen Egoismus akzeptiert, aber netzfeindlichen Egoismus umso konsequenter erkennt und ahndet: mit digitalem Rauswurf.“

Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob man von einer real existierenden „Privatsphäre“ ausgeht, also einem Lebensbereich, in dem das Private stattfindet und zu dem kein Fremder Zugang hat, oder ob wir sagen: Eben weil alles ohnehin öffentlich ist brauchen wir bestimmte Regeln der Diskretion. Auch das findet sich ja durchaus in dörflichen Gemeinschaften Europas, etwa in der sizilianischen „Omertà“, die es Mitgliedern und Angehörigen der Mafia verbietet, mit Außenstehenden über interne Angelegenheiten zu sprechen.

Diskretion ist eine Verhaltensregel und kein Konzept wie das der Privatheit. Die so genannte Privatsphäre ist eine Idee, die einen historischen Hintergrund hat und zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt aufgrund ganz bestimmter Umstände und Entwicklungen entstanden ist. Sie konnte auch nur zu diesem Zeitpunkt und unter diesen Umständen entstehen, und sie besitzt auch nur eine begrenzte Haltbarkeit. Die Vorstellung, es gäbe diese „private Welt“, in die man sich bei Bedarf zurückziehen könne und in der keiner sonst etwas zu suchen hat, ist inzwischen im Zeitalter des digitalen Dorfes schlicht und ergreifend veraltet und überflüssig; sie ist obsolet geworden.

Die Frage, die sich jetzt stellt, lautet: Wie verändern sich mit dieser veränderten Situation auch die Vorstellungen der Menschen und damit letztlich auch die akzeptierten Verhaltensregeln? Heute befinden wir uns an einem Übergang, in der zwei sich widersetzende Gruppen und Strömungen gegenüber stehen. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die unbedingt die Privatsphäre noch besser schützen wollen, also sozusagen digitale Mauern aufbauen, damit wir diesen privaten Raum irgendwie einzäunen und abtrennen können. Auf der anderen stehen diejenigen die sagen, das ist sowieso alles Blödsinn, das ist vorbei – also lasst uns gleich alles öffentlich machen.

Die Wahrheit findet sich vermutlich, wie so oft, irgendwo dazwischen. Weder die Vertreter einer radikalen Öffentlichkeit wie die Spackeria noch die genauso radikale Gruppe insbesondere der deutschen Datenschützer werden sich am Ende durchsetzen. Gerade junge Menschen, die so genannten „Digital Natives“, entwickeln nach unserer Beobachtung zunehmend die Fähigkeit der digitalen Diskretion. „Wenn ich mich auf Facebook mit meinen Freunden unterhalte, und mein Lehrer oder Chef hört zu, dann ist er der Arsch und nicht ich“, brachte es kürzlich ein junger Mann auf den Punkt, „denn das macht man nicht!“ Wer am digitalen Schlüsselloch hängt, den empfinden junge Menschen vor allem als eines: unverschämt. Da es für sie die Fiktion eines privaten Raums nicht mehr gibt, machen sie nolens volens alles öffentlich, gehen aber davon aus, das ihre Mitmenschen diskret damit umgehen.

Wir werden alle lernen müssen, mit der Transparenz zu leben. Was wir erst noch entwickeln müssen ist die Fähigkeit, damit umzugehen. Das wird ein wesentlich Teil einer neuen Digitalen Aufklärung sein, an deren Anfang wir heute stehen. Mein Freund Ossi Urchs und ich schreiben gerade die letzten Zeilen eines Buchs, das diesen Titel tragen wird und das im Herbst bei Hanser erscheint. Kommentare, Kritik, Beifall oder entsetzte Aufschreie haben also noch die Chance, ins Manuskript einzufließen. Mal zu!

Dieser Beitrag wurde unter Das digitale Ich, Digitale Aufklärung, Internet & Co. veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.