Vier Wege, das Wild Wild Web zu retten

Ich schrieb diesen Aufsatz als Rede zur Veröffentlichung meines Buches „Wild Wild Web“ im Jahr 2018. Vieles davon stimmt auch heute noch.

Irgendwas stimmt nicht mit dem World Wide Web. Vor 25 Jahren haben wir es als Beginn einer neuen Zeitrechnung gefeiert, als Mittel der Befreiung der Menschen aus den Zwängen ihrer immer enger gewordenen Welt, als Brücke zwischen den Völkern und Kulturen. Und heute? Das Web mutiert immer mehr zum Albtraum: Datendiebstahl, digitale Fremdbestimmung, Filter Bubbles, Fake News, Hasspostings, Informationsüberlastung und totale Transparenz – war es das, was wir damals gewollt haben? Nein, natürlich nicht!

Das Hauptproblem des World Wide Web lässt sich mit einem einzigen Wort beschreiben: GAFA – Google, Apple, Facebook and Amazon – die mächtigsten Monopole der Weltgeschichte, die völlig außer Kontrolle geraten sind und die immer mehr die Herrschaft über unser Dasein übernehmen. Wir müüsen sie einbremsen, wenn wir überhaupt noch mitreden wollen über unsere eigene digitale Zukunft geht!

George Santayana (1863-1952), ein Spanier, der nach Amerika auswanderte – das ging damals noch – und dort zu einem der wichtigsten Philosophen des 20sten Jahrhunderts wurde, sagte bekanntlich: Wer nicht bereit ist, aus der Geschichte zu lernen, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.

Es gibt, wenn man genau hinschaut, wahnsinnig viele Parallelen zwischen damals und heute, zwischen dem Wilden Westen und dem World Wide Web, das heute ja zumindest historischen noch in den Kinderschuhen steckt.

Google vergleiche ich mit der Eisenbahn im Wilden Westen. Sie brachten Mitte des 19ten Jahrhunderts Menschen zusammen und transportierte gleichzeitig Güter, Nachrichten und Wissen, denn sie versorgte die einsamen Siedler mit Tageszeitungen, Magazine und Bücher. Die Eisenbahn-Barone rotten sich mit der Zeit aber auch zu Monopolen zusammen und beutete die Menschen aus. 1887 wurde in Amerika deshalb der Interstate Commerce Act erlassen, der die Macht der Eisenbahnen beschnitt und Preise vorschrieb, die vernünftig und gerecht („reasonable and just“) zu sein hatten – ein bis dato völlig unbekanntes Rechtsprinzip.

Heute betreibt Alphabet, der Dachkonzern von Google, ein Datenmonopol, gegen das die Eisenbahner die reinsten Waisenknaben waren, und ich bin mir ziemlich sicher, dass es keine Alternative gibt, als sie in die Einzelteile zu zerschlagen: Google, Waymo, Calico, Nest, YouTube, und Android können und müssen auf eigenen Beinen stehen und  als selbständige Unternehmen in ihren jeweiligen Märkten konkurrieren – ohne dass sie weiterhin die Daten ihrer Kunden untereinander hemmungslos austauschen und sich damit in eine marktbeherrschende Position bringen.

Dazu muss allerdings unser Monopolrecht, das aus der ersten Industriellen Revolution stammt, auf das Digitalzeitalter angepasst werden, wo es um Dinge wie Brain Trusts und Datenmonopole geht.

Amazon ist für mich direkt vergleichbar mit Sears Roebuck. 1886 ließ ein Mann namens Richard Warren Sears einen Versandkatalog drucken, um den einsamen Farmern im Westen alles zu verkaufen, was sie brauchten: Lebensmittel (so genannte dry goods), Uhren, Spielpuppen, Nähmaschinen, Fahrräder, Sportartikel, Herde und später sogar Autos, die extra für Sears von den Lincoln Motor Car Works hergestellt wurden. 1895 war der Katalog auf stattliche 532 Seiten angewachsen. Aber Sears wollte nicht nur die Landbevölkerung beliefern, sondern auch die Städter, also baute Sears riesige Ladengeschäfte in den Malls auf, in der Spitze waren mehr als 6.000. 1993 stellte man sogar den Versandkatalog ein, aber da war es schon zu spät: Sears hatte sich übernommen stürzte ab, und vor genau 6 Wochen, am 15. Oktober 2018, ging die lange und ruhmreiche Geschichte des damals größten Handelsunternehmens der Welt zu Ende.

Amazon ist heute natürlich viel mächtiger als Sears es je war, denn Amazon kontrolliert die gesamte Wertschöpfungskette, vom Onlinehandel über die Versandlogistik bis zum Zahlungsverkehr und sogar die Cloud, wo das alles über AWS abläuft – Amazon Web Services. Amazon hat immer wieder offen und unverhohlen gegen das Wettbewerbsrecht und die Steuergesetze verstoßen und wurde zum Beispiel von der EU zu einer Nachzahlung von €750 Millionen verdonnert. Weitere Verfahren laufen noch. Aber noch viel gefährlicher ist, dass Amazon in letzter Zeit den gleichen Fehler zu machen scheint wie einst Sears: Sie bauen Läden wie in New York und Seattle. Wie lange wird das gutgehen? Warten wir’s ab!

Facebook vergleiche ich mit dem Telefon. Im Wilden Westen war es ziemlich einsam: Die Siedler lebten irgendwo draußen auf ihren Farmen. 1848 brauchte ein Brief von New York nach San Francisco auf dem Seeweg um Kap Horn mindestens 90 Tage. Das Telefon brachte die Menschen einander näher – zu nahe, manchmal, denn anfangs mussten sich meistens mehrere Familien eine einzige Telefonleitung teilen, die so genannt „Party Line“. Wenn einer mit der Geliebten am Telefon turteln wollte, musste er die anderen erst bitten aus der Leitung zu verschwinden.

Facebook hat das Social Web übrigens nicht erfunden. Lange vorher gab es eine Firma namens MySpace, an die sich heute kaum jemand mehr erinnert, die aber im Juni 2004 die magische Grenze von einer Million Nutzer pro Monat überschritt und kurz darauf von Robert Murdoch für damals sagenhafte $580 Millionen übernommen wurde. 2011 bekam er für die Reste gerade noch $35 Millionen. Und wie Sie alle wissen ist Google+ jetzt im Oktober eingestellt worden. So gesehen muss man sich um Facebook ja richtig Sorgen machen, wo heute offenbar Zentrifugalkräfte am Werk sind, die das Unternehmen zu zerreißen drohen. Angesichts massiver interner sowie weltweiter Kritik über Datenklau, Wettbewerbsverstöße und Fake News könnte es ganz schnell mit Facebook zu Ender gehen!

Apple ist das Standard Oil des 21sten Jahrhundert. Berühmt wurde sein Gründer John D. Rockefeller, weil er in China Lampen verschenkte und die Bevölkerung damit von seinem Lampenöl abhängig machte. Standard Oil wurde so zum reichsten Unternehmen seiner Zeit.

Was bitteschön ist anders am iPhone, das Apple zum reichsten Unternehmen unserer Zeit gemacht hat? Der – zugegeben unverschämte – Preis ist es nicht, sondern der ständige Einnahmestrom durch Services, Apps und T-Tunes-Musik, die ganz bewusst so gestaltet werden, dass sie uns süchtig machen.

Wie Rockefeller war Steve Jobs ein ruchloser Machtmensch, der über Leichen ging – und beide werden bis heute fast wie Heilige verehrt. Jobs erfuhr einmal, dass ein kritischer Journalist einen Artikel über ihn plante. Er rief ihn an und stellte ihn zur Rede. Zum Schluss sagte Jobs: “Okay, Sie haben herausgefunden, dass ich ein Arschloch bin. Was gibt es sonst Neues?“

Es gibt vier wichtige Wege, das Web zu reparieren und eine Digitale Gesellschaft zu schaffen, in der es sich zu leben lohnt.

  1. Regulierung: Im Wilden Westen hätte man dazu „Law & Order“ gesagt. Wir müssen den bestehenden Rechtsrahmen an die Gegebenheiten des Digitalzeitalters anpassen oder neue Gesetze erlassen, die der neuen Realität angemessen sind. Und wir müssen diese Gesetze und Richtlinien konsequent anwenden – und zwar möglichst weltweit. Wenn das nicht geht, weil beispielsweise China oder Russland sich weigern, die Spielregeln einzuhalten, dann müssen wir es wenigstens in den westlichen Gesellschaften versuchen. Die gute Nachricht lautet: Ähnlich aussichtslos sah die Lage am Ausgang des 19. Jahrhunderts auch aus, als Anti-Monopolgesetze, Arbeitsschutzverordnungen, Gesetze gegen Kinderarbeit und Antidiskriminierungsbestimmungen erst erlassen und dann mühsam durchgesetzt werden mussten. Bis der Sherman Antitrust Act, der bereits 1890 verabschiedet worden war, auch tatsächlich gegen Standard Oil angewendet wurde, vergingen mehr als 20 Jahre!
  2. Technologie: „Technologie ist moralisch neutral – bis wir sie anwenden“, schreibt mein Freund Gerd Leonhard in seinem Buch Technologie vs. Humanity. Es kommt also darauf an, wie und für was wir sie einsetzen. Wenn uns GAFA – Google. Amazon, Facebook und Apple – mit ihrer Technologie die schlimmsten Fehlentwicklungen des World Wide Web eingebrockt haben, dann sollen sie uns gefälligst auch helfen, die Probleme mit ihrer Innovationskraft zu lösen. Die Tech-Konzerne müssen sich ihrer Verantwortung bewusst werden und ihre riesigen Ressourcen nicht nur zur Gewinnmaximierung, sondern auch zum Beheben der schlimmsten Fehlentwicklungen des Wild Wild Web bereitstellen.
  1. Marktmacht: Niemals in der Geschichte hatte der Kunde so viel Macht wie heute. Dank des Internet haben wir alle gemeinsam eine noch nie dagewesene Auswahl; uns stehen mehr Information als je zuvor über Produkte, Dienstleistungen und Preise zur Verfügung; wir haben einen weltumspannenden Kommunikationskanal, den wir dazu benutzen können, uns mit anderen auszutauschen und Dinge, die wir als unfair empfinden, zu brandmarken und abzustellen. „Wir sind das Volk“, lautete die Parole während der Montagsdemonstrationen im Herbst 1989 rund um die Leipziger Nikolaikirche – und das ließ die Bonzen erzittern und die Mauer fallen. „Wir sind das Online-Volk“ könnte die neue Parole lauten, die die Räuberbarone des Digitalzeitalters in die Knie zwingen wird.
  1. Digitale Ethik: Als das Internet noch laufen lernte, also in den frühen 90ern, herrschte in den Foren und auf Usenet oft ein mehr als ruppiger Ton. Bitterböse „Flame Wars“ waren an der Tagesordnung. Damals entstand die Idee einer Netiquette – Benimmregeln, die zwar keine Rechtskraft besaßen, die aber weit verbreitet waren und zumindest ein wenig dazu beitrugen, dass der Ton hier und da gemäßigter wurde.

Mein Freund Dieter Kempf, Präsident des BDI und früher BITKOM-Chef, schrieb in einem Gastbeitrag zu meinem neuen Buch einen Aufsatz mit dem Titel Digitale Ethik – nur eine Frage der Umgangsformen in sozialen Netzen?, in dem er sagt: „Wir dürfen diese wichtige Diskussion nicht nur den Fachleuten, den Programmierern, den Ingenieuren und den Konstrukteuren überlassen.  Voraussetzung dafür, dass wir die hier dargestellten Themen auch gesellschaftlich breit diskutieren und dafür geeignete Lösungen finden können, ist eine deutlich intensivierte digitale Bildung, und zwar schon ab der Sekundarstufe. Dabei geht es nicht darum, minderjährigen Programmiernachwuchs heranzuzüchten. Es geht vielmehr darum, den kommenden Generationen das Rüstzeug für digitale Souveränität mitzugeben, sie in die Lage zu versetzen kann, derartige Entscheidungen selbstbestimmt und unabhängig zu treffen.“

Janina Loh, eine charmante junge Philosophie-Professorin in Wien, fordert verpflichtenden Ethik-Unterricht an den Schulen und Ausbildungsstätten. Ich zitiere: „Es ist nicht mit den ‚kommenden Generationen‘ getan. Wir benötigen bereits im Hier und Jetzt Kurse und Institutionen auf unterschiedlichen Ebenen, die ein ethisches Bewusstsein fördern. Ähnliche Kurse gehören aber auch in die Unternehmen, die Technologien produzieren und mit künstlicher Intelligenz arbeiten, um auch die zu erreichen, die keine ethische Ausbildung in der Schule oder während ihrer Ausbildungszeit hatten. Vor allem aber sollte es Institutionen wie ethische Kommissionen in Unternehmen geben, wie es sie inzwischen beispielsweise auch in Krankenhäusern gibt.“

Ein Ethik-Beauftragter, so wie es heute in jeder größeren Firma einen Datenschutz-Beauftragten gibt? Ja, warum nicht! Er oder sie sollten die für die Auseinandersetzung mit ethisch fragwürdigen Unternehmensentscheidungen zuständig sein und die Unternehmensleitung in neuen oder ethisch schwierigen Situationen beraten.

Wir merken: Außer digitalen Rechten und Chancen gibt es auch eine Pflicht, nämlich mitzuwirken an der Gestaltung unserer Zukunft und der Regeln, nach denen wir in ihr leben wollen. Daran kommt keiner von uns vorbei!

Wir glauben vielleicht, das World Wide Web gäbe es schon ewig, aber in Wahrheit stehen wir noch ganz am Anfang. Heute werden die Claims abgesteckt. Es geht es um die Herrschaft über wichtige Schlüsselbranchen wie Video, Music Streaming, Navigation oder Cloud Services: Das sind einige der Frontiers, wo der Kampf zwischen den GAFA-Unternehmen, aber auch zwischen ihnen und uns ausgetragen werden wird. Die Karten werden noch gemischt, und es ist noch nicht klar, wer das Spiel gewinnen wird.

Aber eines ist sicher: Wenn wir so weitermachen wie bisher, bleiben wir im Wilden Westen stecken. Wir Bürger und Verbraucher werden unser Recht nicht nur einfordern müssen, wir müssen es auch einklagen – und notfalls auch erstreiten. Vielleicht auf der Straße! Der Weg in eine zivilisierte Online-Welt wird nicht ohne eine Revolution von unten abgehen.

Was wir brauchen, ist eine neue, eine digitale Souveränität. Und ich meine das im doppelten Sinn. Einmal Souveränität als Selbstbestimmung. Zum anderen beschreibt das Wort aber auch eine gewisse Gelassenheit, die aus dem Gefühl entsteht, die Lage im Griff zu haben.

Ich möchte nicht im Wilden Westen leben so wie meine Vorfahren, und Sie, liebe Kollegen und Ihre Leser wollen das das ja auch nicht. Wenn wir wollen, können es uns ja jederzeit im Kino anschauen …

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