Wer hätte das gedacht: Die Bahn als Innovations-Dampflok!

© Foto: Ludmilla Parsyak, Fraunhofer IAO

Ich habe neulich einen klugen Vortrag gehört von einem, von dem ich es, ehrlich gesagt, nicht erwartet hätte. Ort der Handlung war das Zukunftsforum des Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart, und derjenige, der ihn hielt, heißt Martin Seiler und ist seines Zeichens Vorstand Personal und Recht bei der Deutschen Bahn AG. Nichts gegen Herrn Seiler persönlich, aber das Unternehmen, das er vertritt, gilt nicht gerade als Innovations-Lokomotive.

Zu ihn hat man auf dem Podium auch noch drei Vorzeige-Startups gesetzt: Lasse Rheingans, Geschäftsführer der Rheingans GmbH in Bielefeld, die sich selbst als „Digital Enabler“ beschreibt, Anna Kaiser, Geschäftsführerin von Tandemploy, ein typisches Gewächs aus dem Berliner Gründer-Treibhaus, und Dr. Steffi Burkhart, selbsternanntes „Sprachrohr der Generation Y“ aus Köln. Ich habe mir das vorher so vorgestellt, als ob ein Vogel Strauß mit drei Spatzen ums Futter streiten will – aber von wegen!

Natürlich haben die drei Jungspunde alle Register aus der Welt von Arbeiten 4.0 gezogen: nonterritoriale Workspaces, Jobsharing, freie Wahl von Arbeitszeit und -ort, Couch und Wellnessbereich, um die lieben Kollegen ab und zu doch noch ins Büro zu locken, und was nicht sonst alles wohlfeil angeboten wird von den Gurumanen. Seiler schien bereits auf dem Abstellgleis gelandet zu sein. „Ein Lokführer kann sich nicht aussuchen, wann und wo er arbeiten will“, war sein eher hilflos wirkender Einwurf.

Doch am Ende holte der Vertreter der ersten Industriellen Revolution aus – und zeigte den digital Transformierten mal so richtig, wo in der Arbeitswelt von Hier und Heute die Harke hängt!

„Fakt ist: Wir haben in Deutschland nicht genug Leute, und wir haben nicht die richtigen Leute“, donnerte er zurück. Und machte gleich mehrere Rechnungen auf. In den nächsten zehn Jahren wird die Hälfte aller Mitarbeiter in Rente gehen, aber es ist niemand da, der sie ersetzen kann. Qualifizierte Facharbeiter? Fehlanzeige! Dafür wahrscheinlich mehr als 4 Millionen Arbeitslose, wenn man die aus der Statistik Ausgeschiedenen mitzählt, davon rund 800.000 Langzeitarbeitslose ohne Perspektive – trotz offiziell verkündeter „Vollbeschäftigung“. Jahr für Jahr verlassen in Deutschland 50.000 Jugendliche ohne Abschluss die Schule und sind damit mehr oder weniger chancenlos im Arbeitsmarkt. Dazu kamen allein 2019 mehr als 165.000 Asylsuchende, meist entweder ohne oder nur mit begrenzter beruflicher Qualifikation und kaum deutsche Sprachkenntnisse.

Die Zahlen sind nicht neu – aber der Tonfall schon. Während nicht nur AfD-Afine darin den Niedergang Deutschland erblicken, sieht Seiler eine Riesenchance für die Wirtschaft. „Das sind alles Menschen – ein riesiges Reservoire, aus dem wir schöpfen könnten – wenn wir wollten.“ Jeder Langzeitarbeitslose, der ins Berufsleben zurückgeholt wird, jeder Schulabbrecher, der nachträglich eine Ausbildung macht, jeder Immigrant, der ins Arbeitsleben integriert wird, sei ein Schritt aus der Misere. Und dann beschrieb er, wie er sich das als Bahn-Vorstand nicht nur vorstellt, sondern aktiv betreibt.

Die Bahn braucht Lokführer. In Deutschland ist der Markt mehr oder weniger ausgeschöpft, also schaltete die Deutsche Bundesbahn Stellensuchanzeigen – in Spanien! Dort herrscht riesige Jugendarbeitslosigkeit, also warum nicht mal einen Versuch wagen? Gesucht wurden 30 Ausbildungsanwärter, meldet haben sich 16.000! Spezielle Programme für Langzeitarbeitslose, Schulabbrecher und Asylanten laufen bereits und zeigen erste Erfolge. „Jammern bringt nichts, man muss was tun“, so sein Fazit.

Okay, das wird Geld kosten, viel Geld sogar. Aber für die Unternehmen ist es eine Investition in die eigene Zukunft, die ansonsten ziemlich schwarz aussieht. Und ja, es ist nicht so sexy, über Dropouts zu reden als über autonomes Arbeiten oder Generation Y, Z oder Alpha. Aber wenn es ihm wirklich gelingt, die richtigen Weichen in die Zukunft des Arbeitsmarktes zu stellen, dann ist es um die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland vielleicht doch nicht so schlecht bestellt, wie ich und viele andere immer geglaubt haben.

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