Absturz ins Sommerloch

Qualitätsjournalismus – und die Folgen…

Meine Journalistenkollegen rümpfen gelegentlich die Nase, wenn von der neuen Macht der Blogger die Rede ist. „Das sind keine Profis“, meinte einer von ihnen neulich. Ein Journalist, so das Argument, hat sein Handwerk gelernt, weiß wie man seine Fakten checkt und seine Quellen überprüft, ist also unterm Strich viel glaubwürdiger als so ein Amateur, der einfach schreibt, wie ihm der Schnabel wächst.

Ich musste an das Gespräch denken, als ich jetzt in der „New York Times“ las, wie es vergangene Woche zu dem dramatischen Absturz an dem Weltbörsen kam, die bekanntlich von der angeblichen Schieflage französischer Banken ausgelöst wurde, namentlich der Societé Générale. Die büßte binnen weniger Stunden mehr als ein Fünftel seines Börsenwerts ein, was eine Panik unter Anlegern auslöste und dazu führte, dass die Aktien der vorübergehend vom Handel suspendiert werden mussten.

Inzwischen ist klar, wer schuld war: Ausgerechnet zwei gestandene Reporter des britischen Boulevardblatts Daily Mail waren einer Zeitungsente aufgesessen. Um das zu verstehen, muss man wissen, dass die Sommermonate von Medienschaffenden traditionell als „Sommerloch“ oder „Sauregurkenzeit“ bezeichnet werden. Die Angelsachsen haben dafür einen viel besseren Begriff, nämlich die „silly season“, weil mancher Reporter in seiner Verzweiflung Banales aufbläht, sich von politischen Wichtigtuern Windeier andrehen lässt oder dankbar nach Gerüchten grabscht: Hauptsache die Zeitung wird voll!

In Frankreich hat man sich schon vor vielen Jahren einen ziemlich eleganten Trick einfallen lassen, um die schrecklichen, die nachrichtenlosen Monate zu überbrücken: Die fiction politique. Das sind lange, meist mehrteilige Polit-Thriller, die sich oft wie ein Wirtschaftskrimi lesen und deren raison d’être sich aus dem Anspruch der Autoren ableitet, dass sie angeblich der Realität zumindest nahe kommen. Schließlich werden sie ja von gestandenen Journalistenprofis geschrieben, die sonst brav über tatsächliche Ereignisse berichten und deshalb besonders gut in der Lage sind, die Frage zu beantworten: Was wäre, wenn…

Die angesehene Pariser Zeitung Le Monde hat in diesem Sommer ihrer Serie den schönen Titel gegeben: „Terminus pour l’euro“ („Das Aus für den Euro“). Es geht los im Mai des Jahres 2012, als der frisch im Amt bestätigte französische Premier Nicolas Sarkozy noch in der Wahlnacht erfährt, dass seine Freundin Angela Merkel von einer Gruppe von Parteirebellen in der CDU/CSU, die den Ausstieg aus dem Euro planen, gestürzt werden soll. Kurz darauf erklärt das oberste deutsche Gericht die Klausel des Euro-Rettungspakts für verfassungswidrig. Und so weiter, und so fort. Spannend, gell?

Garniert wird die Geschichte mit allerlei frei erfundenen Katastrophenmeldungen aus der Welt der Wirtschaft, unter anderem die, dass die renommierte französische Bank Société Générale angeblich in Schieflage geraten ist, weil sie sich mit Griechenland-Krediten verhoben hat. Klingt alles sehr plausibel, ist aber natürlich frei erfunden. Und damit niemand auf die dumme Idee kommt, das alles für bare Münze zu nehmen, schrieben die Redakteurs von Le Monde in dicken Lettern oben drüber: „Suite de la fiction“.

Das müssen die Kollegen von der Daily Mail aber irgendwie übersehen haben. Oder sie haben sich den Artikel, der natürlich in französischer Sprache verfasst war, von Google übersetzen lassen und konnten mit dem Ergebnis („Fortsetzung von Fiktion“) nichts anfangen. Wie auch immer: Sie zitierten in ihrer reißerisch aufgemachten Story über die notleidenden Banken den Artikel in Le Monde brav als Quelle, wie es nach dem Verständnis eines Qualitätsjournalisten ja auch gehört. Dann setzte der normale Automatismus der Branche ein: Ein ums andere Blatt druckte die Meldung nach und bezog sich wiederum auf die Daily Mail. „Eine dunkle Gerüchtewolke hängt über dem Dach des französischen Geldhauses Société Générale“, unkte die ARD auf ihrer Webseite boerse.ard.de. Da half kein Dementi. „Absoluter Müll“, diktierte der Chef des Bankhauses, Frederic Oudea, anrufenden (Qualitäts-)Journalisten verzweifelt ins Notizbuch – vergebens. Die Börsenticker griffen die Geschichte auch gleich auf und schickten sie mit Internetgeschwindigkeit um den Globus, wo prompt die Algorithmen der Handelssysteme die Weichen auf „sofort Verkaufen!“ setzten. Die Finanzwelt stand (wieder einmal) am Abgrund…

Der Rest ist Geschichte. Irgendwann drehten die Kurse wieder ins Plus, sogar die „Sogenal“, wie man sie liebevoll in Frankreich nennt, legte wieder rund 15 Prozentpunkte zu. Und schon bald setzte das große Rätselraten ein: „Es muss die schiere Angst gewesen sein. Anders lassen sich die Börsenturbulenzen der vergangenen zwei Wochen nicht erklären“, orakelte der Focus. Der angesehene Wirtschaftskommentator Zachary Karabell machte den „Glaubwürdigkeits-Defizit der Wall Street“ für die Katastrophe verantwortlich.

Auf die Idee, dem Glaubwürdigkeitsdefizit der etablierten Medien die Schuld zu geben, kam er nicht. Er hätte vielleicht die Blogger fragen sollen. Dort war beispielsweise im MoneyBlog zwei Tage nach dem Absturz zu lesen, dass die Daily Mail offenbar Fakten und Fiktionen durcheinander gebracht hatte. Aber wer glaubt schon einem Amateur?

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