Mein Blogpost von gestern über die Titelgeschichte im aktuellen Economist und die neuen CEOs hat bei mir eine Erinnerung getriggert an einen Text, den ich 2010 geschrieben habe. Er ist (leider) heute genauso aktuell wie damals. Nur Feri Clayton bezieht wie ich befreits Rente.
Tatsächlich hat sich der Büroalltag in vielen Firmen trotz PC und Internet in vielen entscheidenden Details nicht wirklich verändert. Noch immer wandern Papierdokumente von Schreibtisch zu Schreibtisch, werden E-Mails ausgedruckt und dem Chef in der Postmappe vorgelegt, suchen hoch qualifizierte Mitarbeiter oft stundenlang im Keller nach einem falsch abgelegten Vermerk oder einem wichtigen Vertrag, öffnen selber ihre Briefe und stellen sich am Kopierer hinten an – alles Dinge, die eigentlich längst der Vergangenheit angehören müssten, wenn Unternehmen „ihre Hausaufgaben gemacht und rechtzeitig in ECM investiert hätten.“
Die drei Buchstaben ECM stehen für „Enterprise Content Management“, zu Deutsch „unternehmensweites Dokumentenmanagement“, und sie beschreiben eine Welt, die seit Jahren zwar beschworen, aber nie wirklich ernsthaft in Angriff genommen worden ist, nämlich das (weitgehend) papierlose Büro. Nicht, dass jemand ernsthaft glaubt, dass Papier ganz aus dem Arbeitsalltag verschwinden wird. Aber wenn man konsequent versuchen würde, Papier überall dort durch Digitaltechnik zu ersetzen, wo es Sinn macht, könnte die Wirtschaft jedes Jahr Milliarden sparen.
Brinda Dalal, eine Anthropologin, die für das Entwicklungslabor der Firma Xerox in Kanada arbeitet, wühlt hauptamtlich in den Papierkörben anderer Leute und bezeichnet sich deshalb selbst als „garbologist“ – als Müllforscherin. Sie hat bei ihren Grabungen erstaunliche Erkenntnisse zutage gefördert, zum Beispiel die, dass der durchschnittliche Wissensarbeiter pro Monat 1 200 Blatt bedrucktes oder kopiertes Papier produziert – zweieinhalb handelsübliche Packungen also. Und was noch schlimmer ist: Ein Fünftel davon wandert noch am gleichen Tag in die Tonne. Insgesamt 44,5 Prozent aller Papierdokumente werden nur für den täglichen Arbeitsbedarf erstellt, also Auftragszettel, Entwürfe oder Notizen.
Wie es anders gehen kann, zeigt das Beispiel der Firma Gabel-Schmidt in Winsen an der Luhe, ein 300 Jahre alter Schmiedebetrieb. Etwa 30 Mitarbeiter fertigen hier Stahlzinken für Gabelstapler, und zwar sowohl Serienteile wie auch Spezialanfertigungen, für die zum Beispiel oft besondere Wärmebehandlungen nötig sind. Die Dokumentation der Bauteile sowie der Qualitätskontrolle erfordert eine Flut von Dokumenten und Formularen, die früher in Aktenordnern gesammelt wurden, die während der Fertigung durch den Betrieb wanderten. Nach der Auslieferung kamen Installationsprotokolle und Kundenberichte vom Außendienst hinzu – ein stattlicher Papierberg für jede ausgelieferte Gabel. Inzwischen sind die Ordner verschwunden. Stattdessen kann jeder Mitarbeiter bei Bedarf eine elektronische Akte aufrufen und bekommt alle wesentlichen Dokumente zu dem betreffenden Bauteil digital auf dem Bildschirm präsentiert. Selbst handgeschriebene Notizen sind dort abgelegt und können jederzeit abgerufen werden. „Wir wollten nicht mehr, dass wichtige Mitteilungen auf Papier in Schränken einstauben, sondern transparent für jeden zugänglich sind“, sagt Geschäftsführerin Michaela Schmidt-Lucht. Das System der Firma Mesonic aus Scheeßel in Niedersachsen wurde ursprünglich für die Warenwirtschaft eingeführt, steht aber inzwischen auch Mitarbeitern in der Finanzbuchhaltung ebenso zur Verfügung wie dem Vertrieb. Geplant ist auch die Anbindung einer bereits existierenden Reklamationsabwicklung.
Der Anteil an digitalen Dokumenten in einem normalen deutschen Unternehmen liegt einer Studie von IBM zufolge zwar inzwischen schon recht hoch; zwischen 70 und 80 Prozent der Papierdokumente werden irgendwann gescannt, dazu kommen von den Mitarbeitern bereits in Digitalform erstellte Word-Dokumente oder Excel-Tabellen sowie E-Mails. Doch bleiben die meisten davon ungenutzt, weil nicht zentral darauf zurückgegriffen werden kann.
[Anmerkung aus dem Hier und Heute: „Papierrechnungen sind noch bei 44 Prozent der Unternehmen im Einsatz“, sagte eine Studie der BitKOM 2018]
„Maximal 20 Prozent der Dokumente liegen in codierter Form vor, können also jederzeit gefunden und auch von anderen verwendet werden“, sagt Feri Clayton, Leiterin der ECM-Entwicklung bei der IBM Software Group. Der Rest lagert irgendwo auf den Festplatten der Mitarbeiter oder auf dem Mail-Server – „also de facto auf dem digitalen Müllberg, den es fast in jedem Unternehmen gibt“, wie sie behauptet.
Das Ziel von ECM, so Clayton, ist es, „Geschäftsprozesse stromlinienförmig zu verschlanken, damit Unternehmen Mehrwert aus den Informationen ziehen können, die bereits im Haus vorhanden sind. Das macht sie profitabler und produktiver.“
Die Einführung von ECM sollte bei den einfachen, alltäglichen Dingen beginnen wie beispielsweise dem Posteingang, rät Michael Schiklang, Analyst am Business Application Research Center (BARC), einer Ausgründung der Uni Würzburg. Die gängige Unternehmenspraxis sieht nach seiner Beobachtung so aus: Briefe werden entweder ungeöffnet in die Fachabteilung getragen oder, wenn der richtige Empfänger nicht sofort ersichtlich ist, in der Poststelle geöffnet und inhaltlich zugeordnet. Häufig bleibt die Korrespondenz im Posteingangskorb liegen, etwa wenn der Empfänger im Urlaub, außer Haus oder im Meeting ist – obwohl der Brief unter Umständen wichtige Informationen enthält, die zum Abarbeiten eines Geschäftsvorgangs benötigt werden. Häufig betrifft das Dokument mehrere Mitarbeiter, also werden Kopien gemacht und herumgeschickt. Ist der Vorgang abgeschlossen, wandern die Papieroriginale ins Archiv, wo sie gescannt und entweder weggeworfen oder – wenn es entsprechende Aufbewahrungspflichten gibt – in Aktenordnern abgelegt werden.
„Das Thema automatische Posteingangsbearbeitung gewinnt in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung“, behauptet Schiklang. Grund dafür ist neben der immer höher werdenden Erkennungsgenauigkeit der Schrifterkennungssysteme auch „das Bewusstsein von Unternehmen, dass die teilweise Automatisierung von Prozessen erhebliche Qualitäts- und Zeitvorteile mit sich bringt sowie Kosten senkt“, meint der Fachmann.
Entscheidend ist, dass die Papierpost gleich zu Beginn durch Scannen digitalisiert wird. Das Original kann gleich im Archiv verschwinden, das elektronische Abbild nimmt seinen Weg durchs Unternehmen, wobei intelligente Software in der Lage ist festzustellen, um was für ein Dokument es sich handelt und zu welchem Vorgang es gehört, etwa durch Erkennen der Kunden- oder Rechnungsnummer. Sobald der zuständige Sachbearbeiter das Dokument öffnet, ruft das System sämtliche anderen für die Bearbeitung notwendigen Dokumente aus dem digitalen Archiv auf und zeigt sie ebenfalls an, was dem Mitarbeiter zeitraubendes Suchen erspart und die Genauigkeit der Bearbeitung erhöht. „Der entscheidende Unterschied ist, dass vorher gescannt wird und nicht nachher“, sagt Schiklang.
Besonders deutlich wird der Vorteil der digitalen Sachbearbeitung bei Dingen wie komplizierten Sammelrechnungen, die oft Dutzende oder Hunderte von Einzelposten enthalten. Alleine für die Prüfung einer einzigen Rechnung benötigte bei der Loewe AG in Kronach ein Buchhalter häufig bis zu einer halben Stunde oder mehr. „Heute schafft er das in zwei Minuten“, sagt Christoph Schüler, Chef des Rechnungswesens beim renommierten Fernsehhersteller. Bei einem Einkaufsvolumen von mehr als 200 Millionen Euro nur für die Fertigung schlagen solche Zeitersparnisse spürbar auf die Kosten durch. Das vom deutschen Spezialanbieter Beta Systems gelieferte digitale Rechnungsbearbeitungssystem hat nicht nur die Durchlaufzeiten verkürzt: Schüler kann jetzt auf einen Blick erkennen, welche Rechnungen im Haus unterwegs sind, und kann dort, wo es offensichtlich hakt, auch mal nachfassen. Loewe kann dadurch auch die Vorsteuer früher abziehen und die Skontomöglichkeiten voll ausschöpfen. „So verbuchen wir unmittelbare Zeitgewinne, bekommen unser Geld schneller vom Finanzamt zurück und konnten unseren Cashflow verbessern“, freut sich Schüler.
Aber auch wenn die interne Vernetzung bei solchen Prozessen wie Postbearbeitung oder Rechnungswesen wie ein Turbolader wirkt, hört der Effekt bei den meisten Unternehmen bis heute schon an der Haustür auf. Der Grund: Trotz Digitalisierung und des Siegeszugs von E-Mail werden beispielsweise Rechnungen immer noch wie zu Kaisers Zeiten mit der guten, alten „Schneckenpost“ versandt – ein Umstand, der bei Steffen Tampe blankes Unverständnis auslöst. „Mit digitalem Rechnungsversand kann jedes Unternehmen bis zu 95 Prozent sparen, und zwar sofort!“, sagt er, und seine Stimme klingt fast zornig.
Tatsächlich gibt es seit mehr als zehn Jahren das sogenannte „E-Invoicing“ oder „E-Billing“ auch in Deutschland, also die vollständig auf elektronischem Weg übermittelte Rechnung. Allerdings spielt sie im Geschäftsalltag bis heute so gut wie keine Rolle: Lediglich fünf Prozent aller Rechnungen in Europa werden digital verschickt, wie eine Studie der Deutschen Bank im Frühjahr 2009 ergab. Am häufigsten verwenden Firmen in Estland den elektronischen Rechnungsversand, Deutschland taucht in der Tabelle erst an sechster Stelle auf – hinter Ländern wie Norwegen und Italien!
Dabei spart die digitale Rechnung viel mehr als nur das Porto, wie Tampe betont. Eine Vollkostenrechnung zeigt, dass jede Papierrechnung insgesamt Transaktionskosten von mindestens 3,90 Euro verursacht, die beim E-Invoicing komplett entfallen. Auch die eventuell nötige elektronische Zahlungserinnerung kommt im Schnitt zehn Cent billiger. Den größten Vorteil sieht Tampe jedoch in der Prozessoptimierung: „Die elektronische Rechnung kann sofort in die Bearbeitung einfließen, mit anderen relevanten Dokumenten verknüpft und mithilfe von vernetzten Genehmigungsprozessen schneller und sicherer bearbeitet werden. Das sind alles wichtige Faktoren, die Zeit und Geld sparen – also warum tun es die Unternehmen nicht?“
Ein möglicher Grund ist neben dem natürlichen Beharrungsvermögen von mittelständischen Unternehmern, Managern und Mitarbeitern auch in technischer Unkenntnis zu suchen. „Viele tun sich mit Dingen wie der digitalen Signatur schwer“, gibt Jürgen Michel, Geschäftsführer des Systemhauses Traut Bürokommunikation in Puchheim bei München zu. Dabei benötigen die Unternehmen die elektronische Unterschrift bereits an anderer Stelle, etwa bei der Abgabe der digitalen Steuererklärung (ELSTER) oder dem elektronischen Einkommensnachweis (ELENA).
Das größte Hindernis bei der Einführung vernetzter Dokumentensysteme ist aber nach Michels Meinung die fehlende Selbstdisziplin: „Solche Systeme verlangen, dass man beim Scannen oder Erstellen von digitalen Dokumenten einen gewissen Aufwand für die Kennzeichnung betreibt, damit sie wiedergefunden oder in die vernetzten Geschäftsabläufe eingebunden werden können.“ Da ist es schon mal nötig, bei den Dokumentennamen eine gewisse Systematik einzuhalten. Und statt wie gewohnt ein selbst erstelltes Dokument auf der eigenen Festplatte abzuspeichern, muss der Mitarbeiter es ins Zentralsystem legen, wo es mit entsprechenden Kennungen wie Kunden- oder Fallnummer versehen werden muss. „Jemand, der gewohnt war, sein Wissen entweder im Kopf oder im Schreibtisch abzulegen, wird sich am Anfang schwertun mit dem vernetzten Arbeiten“, gibt Michel zu.
Die Vorteile liegen aber auf der Hand, beispielsweise wenn ein Kunde anruft und eine Auskunft will oder sich beschweren möchte. Statt ihn weiterzuverbinden oder in der Warteschlange „verhungern“ zu lassen, kann sich der Mitarbeiter per Mausklick alle vorgangsrelevanten Schriftstücke, Verträge oder sonstige Dokumente zeigen lassen und ist sofort auskunftsbereit. „Da fängt die Vernetzung auf einmal an, sich ganz konkret fürs Unternehmen auszuzahlen“, ist Steffen Tampe überzeugt, „denn zufriedene Kunden braucht jedes Unternehmen.“
Die Aufgabe des Unternehmens 2020 in den kommenden Jahren ist jedenfalls klar. Es wird darum gehen, analoge Lücken in digitalen Abläufen zu erkennen und zu stopfen, durchgängige Prozesse aufzusetzen und die Vorteile der Vernetzung konsequent im Geschäftsalltag zu nutzen, um Kostenvorteile zu realisieren, die Produktivität der Mitarbeiter zu erhöhen und zum Beispiel auch die Auskunftsfähigkeit gegenüber Kunden und Partnern zu verbessern. 2020 wird kein Unternehmen mehr Rechnungen mit der Post versenden. Eigentlich dürften sie es schon heute nicht mehr. ECM wird sich in den kommenden Jahren von einem exotisch klingenden Kürzel hin zu gelebter Unternehmenswirklichkeit entwickeln. Und wir werden uns in einem nachdenklichen Augenblick wieder erstaunt die Frage stellen: „Wie haben wir das eigentlich früher gemacht …?“