Gedanken beim Betrachten von Kinderbildern

Kinderbilder

Ein kleiner Junge liegt am Strand. Er trägt ein rotes T-Shirt und eine schwarze Hose. Er scheint zu schlafen. Nur, dass sein Kopf von den Wellen überspült wird. Aylan Kurdi ist tot, ertrunken beim Versuch seiner Familie, übers Meer vor Gewalt und Verzweiflung in der syrischen Heimat zu fliehen.

Bilder können eine merkwürdige Wirkung entfalten. Das nackte, weinende „Napalm-Mädchen“, das der US-Fotograf Nick Ut 1972 nach einem amerikanischen Bombenangriff auf ihr Dorf festhielt, hat wie kein anderes dazu beigetragen, meine Generation junger Amerikaner von der Sinnlosigkeit des Vietnamkriegs zu überzeugen. Selbst heute, nach mehr als 40 Jahren, ballt sich bei mir der Magen, wenn ich es anschaue.

Das Bild des scheinbar friedlich schlafenden Aylan Kurdi könnte eine ähnliche Wirkung haben. Es ist Dank der viralen Kraft des Internet blitzartig um den Globus gegangen. Dabei ist eine seltsame Diskussion entbrannt, nämlich darüber, ob man diese Bilder überhaupt zeigen darf. Die „Berliner Morgenpost“ titelte heute: „Ein Foto geht um die Welt“, zeigte es aber nicht. Offenbar haben die Redakteure Angst, ihren Lesern könnte der Morgenkaffee hochkommen.

Ich starre das Bild immer und immer wieder an. In mir wechseln Wut und Hilflosigkeit sich ab. So könnte meine noch ungeborene Enkeltochter aussehen, unser Nachbarjunge, jedes Kind, das an der Hand der Mutter zum Kindergarten geht und dabei an unserem Gartenzaun vorbeikommt. Der Polizist, der den kleinen Aylan aufhebt, sieht wie ein Vater aus, der seinen Sohn, der hingefallen ist auf seinen kurzen, ungeübten Beinchen, liebevoll in den Arm genommen hat.

Es sind Tausende von Kindern gestorben auf dem Weg in eine bessere Zukunft – überhaupt irgendeine eine Zukunft – in unserem Gelobten Land jenseits des Wassers. Aber wir haben immer wieder weggeschaut. Vielleicht ist damit jetzt Schluss.

Ein solches Bild gräbt sich tief ins kollektive Gewissen ein. Vielleicht ist es ein Wendepunkt. Vielleicht werden auch diejenigen, die in Buben wie Aylan und seinen Eltern nichts als eine Bedrohung sehen, endlich verstehen, dass wir alle im gleichen Boot sitzen. Wenn es kentert, gehen wir alle unter.

Bilder können die Welt verändern, oder sie können ganz schnell in Vergessenheit geraten in den schnellebigen Tagen des globalen Netzwerks. Was wohl mit diesem Bild geschehen wird?

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