Kann Digitale Ethik das Internet vor sich selbst retten?

Dringend gesucht!

In meinem Buch „Wild Wild Web – Was uns die Geschichte des Wilden Westens über die Zukunft der Digitalen Gesellschaft sagt“, beschreibe ich die vier wichtigsten Mittel, die uns zur Verfügung stehen, um das Web zu reparieren und eine Digitale Gesellschaft zu schaffen, in der es sich zu leben lohnt. Für eine Keynote im Rahmen der Pfingst-Dialoge „Geist & Gegenwart“ auf Schloss Seggau in der Südsteiermark habe ich eine Kurzfassung geschrieben.

Da ist zunächst und zuallererst die Regulierung: Im Wilden Westen hätte man dazu „Law & Order“ gesagt. Wir müssen den bestehenden Rechtsrahmen an die Gegebenheiten des Digitalzeitalters anpassen oder neue Gesetze erlassen, die der neuen Realität angemessen sind. Und wir müssen diese Gesetze und Richtlinien konsequent anwenden – und zwar möglichst weltweit.

Viele hielten mich dafür für einen Phantasten, aber die gute Nachricht lautet: Ähnlich aussichtslos sah die Lage im 19. Jahrhundert auch aus, als Anti-Monopolgesetze, Arbeitsschutzverordnungen, Gesetze gegen Kinderarbeit und Antidiskriminierungsbestimmungen erst erlassen und dann mühsam durchgesetzt werden mussten. Es dauerte bis 1906, ehe das bereits 1890 verabschiedete Sherman-Gesetz zum ersten Mal gegen Standard Oil angewendet wurde, was zur Zerschlagung des Konzerns führte.

Als ich mein Buch im Oktober 2018 vorstellte, war alles ruhig an der Internet-Front. Ja, es gab vereinzelte Demos in 20 Ländern, darunter in Deutschland, Österreich gegen die geplante europäische Urheberrechtsnovelle, die aber trotzdem kam. Vielleicht hätten wir bei den Demos lauter schreien müssen, und eine politische Fehlentscheidung lässt sich ja auch wieder rückgängig machen.

Inzwischen ist ja noch etwas sehr Seltsames passiert. Das deutsche Bundeskartellamt schickte eine Pressemitteilung raus, in der es um Datenschutz ging.

Halt, war Datenschutz nicht etwas für die Datenschutzbehörden? Wieso mischen sich plötzlich Deutschlands oberste Wettbewerbshüter ein?

Nun, um Daten von Maschinen bearbeiten lassen zu können, müssen sie codiert und gespeichert – sprich: aufbewahrt werden. Damit sind Daten aber unselbständig, also eine Sache. Und Sachen sind sozusagen die Sache des Kartellamts

Leider existiert aber bis heute in unserem Zivilrecht keine so klare Definition. Das ist es auch, was der ehemalige EU-Digitalkommissar Günter Oettinger, den ich mal auf der CeBIT interviewen durfte, als den „rechtsfreien Raum“ bezeichnet hat, der dringend durch ein „europäisches BGB“, oder wie er es nannte, ein „European Civil Code“ gestopft werden müsse.

Nun ist Oettinger längst weitergezogen, kümmerte sich um den EU-Haushalt, und sein Nachfolger, Andrus Ansip aus Estland, hat offenbar nichts von der verbindlichen Regelung von Datenströmen gehalten. Nun, im November tritt eine neue Kommission ihren Dienst an, und da werden wir ja sehen, ob neue Besen besser kehren als die alten.

Vor diesen Hintergrund beginnt allerdings die Entscheidung des Kartellamts, sich in Datendinge einzumischen, geradezu historische Dimensionen einzunehmen. Die Wettbewerbshüter haben das legalistische Loch gestopft zwischen Personendaten und Daten als Ware, und das ist gut so!

Wenn Facebook zum Beispiel Daten von fremden Websites über dort eingebaute „Like“ Buttons sammelt oder Daten aus verschiedenen konzerneigenen Apps wie Instagram oder WhatsApp sowie von Drittanbietern zusammenführt, tut sie das in der vollen Absicht, die eigene Wettbewerbsposition zu stärken und die der Konkurrenten zu schwächen. Das hat mit Datenschutz gar nichts und mit Kartellrechtsverstoß alles zu tun. Das ist vielleicht der Haken, an dem wir Facebook und die anderen GAFA-Mitglieder fangen können und ihre scheinbar unaufhaltsame Übermacht stoppen.

Aber Regulierung ist nur ein Weg, um GAFA ihre Grenzen aufzuzeigen, Als Gesellschaft stehen uns noch andere Machtmittel zur Verfügung, um unsere digitale Zukunft abzusichern.

Da wäre zum Beispiel die gleiche Technologie, die GAFA selbst zur Macht verholfen hat.

„Technologie ist moralisch neutral – bis wir sie anwenden“, schreibt mein Freund Gerd Leonhard in seinem Buch Technologyvs. Humanity. Es kommt immer  darauf an, wie und für was wir sie verwenden.

Wenn uns GAFA mit ihrer Technologie Dinge wie Fake News, Hasspostings, Datendiebstahl, digitale Fremdbestimmung, Filter Bubbles, Informationsüberlastung und totale Transparenz eingebrockt haben, dann sollen sie uns gefälligst auch helfen, die Probleme mit Hilfe ihrer Innovationskraft zu lösen. Die Tech-Konzerne müssen sich ihrer Verantwortung bewusst gemacht werden und ihre riesigen Ressourcen nicht nur zur Gewinnmaximierung, sondern auch zum Beheben der schlimmsten Fehlentwicklungen des Wild Wild Web bereitstellen.

Als drittens Mittel stehen und Netizens unsere Marktmacht zur Verfügung. Niemals in der Geschichte hatte der Kunde so viel Macht wie heute. Dank des Internet haben wir alle gemeinsam eine noch nie dagewesene Auswahl; uns stehen mehr Information als je zuvor über Produkte, Dienstleistungen und Preise zur Verfügung; wir haben einen weltumspannenden Kommunikationskanal, den wir dazu benutzen können, uns mit anderen auszutauschen und Dinge, die wir als unfair empfinden, zu brandmarken und abzustellen.

„Wir sind das Volk“, lautete die Parole während der Montagsdemos im Herbst 1989 rund um die Leipziger Nikolaikirche – und das ließ die Bonzen erzittern und die Mauer fallen. „Wir sind das Online-Volk“ könnte die neue Parole lauten, die die Räuberbarone des Digitalzeitalters in die Knie zwingen wird.

Und viertens schließlich brauchen wir dringend eine neue, eine Digitale Ethik. Als das Internet laufen lernte, also in den frühen 90ern, liefen die meisten Dialoge auf Foren und im sogenannten Usenet ab, und dort herrschte oft ein mehr als ruppiger Ton. „Flame Wars“ waren an der Tagesordnung: bitterböse Wutpostings, in denen man sich in übelsten Schmähungen und persönliche Beleidigungen an den virtuellen Kopf warf. In dieser Zeit entstand die Idee einer Netiquette – Benimmregeln, die zwar keine Rechtskraft besaßen, die aber weit verbreitet waren und zumindest ein wenig dazu beitrugen, dass der Ton hier und da gemäßigter wurde.

Dazu braucht es aber zuerst eine Übereinkunft darüber, was im Digitalzeitalter überhaupt ethisch ist und was nicht. Der US-Journalist John Markoff von den New York Times schreibt in seinem Buch Machines of Loving Grace: „Entscheidungen über den Einsatz von Technologie werden heute auf der Grundlage von Gewinn und Effizienz gefällt. Was wir aber brauchen ist ein neuer moralischer Kompass.“ Sonst könnte es passieren, dass wir das Schiff, in dem wir alle sitzen, gegen die Klippen steuern

Die Unternehmensberaterin Charlotte de Broglie von For The Future beklagt das Vorherrschen einer kurzsichtigen, rein auf Nutzwert orientierten Denkweise, die keine Rücksicht nimmt auf die übergeordneten sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen. Daran müsse sich etwas ändern – und es müsse schon in der Schule beginnen, in der Berufsausbildung und im Studium. Die digitalen Vordenker, die Erschaffer digitaler Lösungen und Produkte, die Mathematiker, Ingenieure und Computerwissenschaftler von morgen müssten sich frühzeitig und intensiv mit der ethischen Dimension ihres Tuns auseinandersetzen und eine globale, interdisziplinäre Sicht auf die Folgen von Technologie auf die Gesellschaft bekommen. „Die digitalen Akteure, oder besser noch alle Bürger, müssen in die Lage versetzt werden, eine autonome Sichtweise auf das zu entwickeln, was mit ihnen geschieht – sonst werden wir über kurz oder lang in die digitale Bevormundung abgleiten – eine digitale Autokratie“, schreibt sie in einer Publikation der OECD.

„Wenn wir die Hoffnung auf eine unabhängige Vision von Technologie aufgeben, wird ihre Anwendung am Ende von allmächtigen multinationalen Konzernen diktiert werden, womit ihr Würgegriff auf die Gesellschaft gestärkt wird. Das globale Gleichgewicht würde gestört, vor allem was die Aufsicht und die Kontrolle über das Internet angeht.“

Digitaltechnik muss als Teil eines großen Ganzen gesehen werden, und an seiner Entwicklung sollten neben Ingenieuren und Wissenschaftlern auch Vertreter der Zivilgesellschaft beteiligt sein, um einen motivierenden ethischen Dialog und Diskurs sicherzustellen. Die Interaktion zwischen Mensch und Computer kann und muss eine systematische ethische Begegnung sein, ohne dass dadurch das Innovationstempo gebremst wird.

Diese „digitale Ethik“ müssen wir aktiv und aggressiv kommunizieren – in unseren Schulen und Hochschulen, in den Ausbildungsstätten und vor allem in unseren Unternehmen, wo es in jedem größeren Betrieb in Zukunft meiner Meinung nach einen „Ethik-Beauftragten“ geben sollte, so wie heute der Datenschutzbeauftragte selbstverständlich ist.

Die Frage nach einer Maschinenethik ist am allerwenigsten eine technische und vielmehr eine gesamtgesellschaftliche. Juristen mögen streiten, ob die Straßenverkehrsordnung jetzt ans Digitalzeitalter anzupassen ist, aber am Ende des Tages sind wir, das Online-Volk, in der Pflicht sein zu entscheiden, was wir wollen und was nicht.

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